Tant´ Bäbi

Kurzgeschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  RainerMScholz

Das vergilbte Foto zeigt sie im Schatten des Fensterflügels, wie sie mit ihrem alten Gesicht fragend zu mir herausschaut. Ich habe es als kleiner Junge von den Wellblechdächern der Schuppen im Garten, auf denen ich oft spielte und wo ich alleine sein konnte, aufgenommen, keine Ahnung mit wessen Kamera. Großtante Barbaras Schwester Susi war da schon tot, an Kehlkopfkrebs gestorben, vielleicht auch an Vereinsamung, am Alleinesein mit ihrer Schwester, mit der sie sich die zwei Zimmer teilten im ersten Stock. Das Gesicht im Schatten – ich muss oft daran denken, und manchmal, wenn ich etwas getrunken habe, dann hole ich es aus der Kiste hervor und sehe es mir an, und vielleicht zünde ich auch eine Kerze dazu an, für`s Bäbi, die immer für mich da war, die mit mir Mau Mau gespielt hat und Mühle. Bis sie nicht mehr konnte, und dann sehe ich das Foto, und ich denke, was für ein Leben muss das gewesen sein. Wenn ganze Welten zusammenbrechen, und dennoch geht es weiter, die Alltäglichkeit, das morgendliche Aufstehen, die Arbeit in der Fabrik und dann wieder heim. Und nie wird darüber gesprochen. Immer nur die Notration, auch an Worten. Dann wird der Ofen geschürt, der Kaffee wird gebrüht, und am Ende bleibt nichts, als die Straße zu kehren und in das Haus zurück zu gehen und die Tür zu schließen. Meine Mutter war da längst in der Welt unterwegs und mein Vater fuhr den Viehtransporter. Ich buddelte im Garten nach alten Scherben und versuchte im Unterricht der Grundschule hochdeutsch zu sprechen und mich an die Gepflogenheiten zu halten. Die Schulbücher verstand ich nur schlecht und die Religion war mir ein Kreuz. Aber Tant´ Bäbi nahm mich an der Hand und wir gingen die Enten füttern. Die Wolken zogen über die Weiher, die Blätter raschelten, wir setzten uns auf die Bank und nahmen die Butterbrotschnitten hervor. Manchmal strich sie mir über den Kopf und ich lächelte. Meine Beine reichten noch nicht bis zum Boden.

Ich war dann noch einmal da. Das Haus kam mir viel kleiner vor, als ich es in Erinnerung hatte. Auf dem Friedhof konnte ich nicht ein Grab finden, keinen Namen, keine Familie, die hier läge, die ich gekannt hätte. Der Wind wehte scharf, ich musste den Kopf drehen, damit mir die Augen nicht tränten. Ich lief die schmalen Wege zwischen den Grabstellen ab, doch da war nichts. Grüne Gießkannen wurden herumgewirbelt, alle Grablichter waren erloschen und die wenigen Besucher und Trauernden hielten ihre Schirme und Hüte fest.

Ich lege das Foto zurück in die Kiste, stecke es zwischen die anderen vergilbten Abbildungen von all diesen Leben und schließe den Deckel. In der Küche schenke ich mir noch einen Wein ein, zünde mir eine Zigarette an und schaue aus dem Fenster. Die Bäume schwanken im Herbststurm. Die Blätter fallen. Das Kriegerdenkmal in Feyen haben sie stehen lassen. Vielleicht für das nächste Mal. Dann kehrt ein anderer Junge die Buchsbaumblätter mit dem Besen fort, wenn alles vorbei ist und die Namen eingraviert wurden, die heute noch keiner kennt.




© Rainer M. Scholz



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Kommentare zu diesem Text


 millefiori (09.11.23, 09:43)
Hallo Rainer, 
es ist gut wenn Kinder solche Tanten oder auch Großeltern haben, sie können ganz besonders auf sie einwirken und sie für das Leben stärken mit solch einfachen Dingen, wie Enten füttern. Weil sie einfach aus allem etwas besonderes machen können. 
Wie meine Oma aus dem Früchtetee einen "Schäm Dich Tee" der rot wurde. 
Danke für die Gedanken.

Liebe Grüße
Millefiori

 Gabyi meinte dazu am 09.11.23 um 10:28:
Hallo Rainer, ich liebe Tanten-Geschichten. Habe auch über meine sämtlichen Tanten Stories verfasst. damit sie nicht der Vergessenheit anheim fallen. Gern gelesen.
LG, Gabyi

 RainerMScholz antwortete darauf am 11.11.23 um 15:31:
Damit sie nicht vergessen werden, schon zu Lebzeiten, nimmermehr.

SchämdichTee ist auch super. Und Juckpulver aus den Fruchtständen der wilden Heckenrose.

Grüße + Dank,
R

Antwort geändert am 13.11.2023 um 14:23 Uhr

 millefiori schrieb daraufhin am 16.11.23 um 14:12:
Und nicht zu vergessen die Nasenzwicker ( Ahornsamen auf die Nase geklebt) und die weißen Knallbeeren an den Sträuchern. Usw. ach mir fällt grade soviel wieder ein. 
Danke für den Erinnerungsschubs.
Liebe Grüße
millefiori

 franky (09.11.23, 10:33)
Hi lieber Rainer 

Auch bei mir kommen alte Bilder hoch, die ich noch als sehendes Kind erlebt habe, bevor es eine Explosion grausam beendet hat. 
Danke für Deine schönen Zeilen 

Grüße von Franky

 RainerMScholz äußerte darauf am 11.11.23 um 15:32:
Ich danke für die einfühlsame Kritik.
Grüße,
R.

 eiskimo (09.11.23, 10:59)
Toll erzählt, da wird Vieles lebendig!
Im Grunde beginnt am Ende mit "Das Kriegerdenkmal in Feyen haben sie stehen lassen" eine zweite Geschichte eine Art Blick in die Zukunft. Keine Familiengeschichte mehr, sondern eine düstere allgemeine Geschichte..
Gruß
Eiskimo

 RainerMScholz ergänzte dazu am 11.11.23 um 15:35:
...welche die unsere sein  könnte; trotz all der Geschichten, die wir aus erster Hand vielleicht noch haben erfahren, manchesmal wohl mehr erfühlen können.
Gruß + Dank,
R.
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