Ein Suizid

Kurzgeschichte zum Thema Leben/Tod

von  Graeculus

Teils neugierig, teils entsetzt standen Nachbarn und Passanten um den Leichnam des Mannes herum, der sich vom obersten Stock des Hochhauses auf die Straße gestürzt hatte. Gehirn und Blut, meterweise verspritzt, umgaben ihn. Irgendjemand hatte eine Decke aus dem Haus geholt und breitete sie mitleidig über den zerstörten Körper. Murmelnd unterhielten sich einige Zuschauer: „Den kenne ich. Der wohnt hier im Haus. Er war immer so ...“

Bei Polizei und Notarzt waren bereits Anrufe eingegangen. Aber zu retten war nichts mehr – nur noch zu registrieren und abzuräumen. Der Tod war ins Leben getreten und erfüllte die Umstehenden mit Grauen. Für den Toten bedeutete er wohl nichts mehr.


Seine Ehe war gescheitert, seine Kinder hatten sich von ihm entfremdet und zeigten allenfalls noch höfliches Interesse, als Autor war er stets – wohlwollend gesagt - zweitklassig geblieben, und nun stand ihm nur noch das freundlose Alter bevor.

Eines Tages traf er eine Entscheidung. Diese Entscheidung lautete: Fahre hinauf und stürze dich hinab! Das Haus, in dem er wohnte, hatte elf Stockwerke. Das sollte genügen: schnell und sicher sein. Er schloß seine Wohnung ab, obwohl dies ohne eigentlichen Sinn war. Möglicherweise hatte es eine symbolische Bedeutung. Als er abgeschlossen hatte, befand er sich draußen, nicht drinnen. Er trennte sich von seinem Leben.

Der Aufzug kam, und mit festem Fingerdruck drückte er seinen letzten Willen aus: 11. Etage. Hinauf und hinunter. Gemächlich setzte sich der Aufzug in Bewegung. Oben angekommen, öffnete sich die Tür und überließ ihn seinem letzten Schritt.

Unvermutet läutete sein Smartphone. Wer könnte ihn jetzt anrufen? Mit welcher Frage, welcher Nachricht? Für was war er noch erreichbar?


Als er kurz darauf beschwingt das Haus verließ, sah er den Auflauf vor dem Haus. Auch wenn die Decke den Leichnam verhüllte, war ihm klar, daß hier jemand das getan hatte, was er soeben selbst vorgehabt hatte.
„Es ist der Alkoholiker aus dem vierten Stock“, erklärte ihm ein Nachbar.


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Kommentare zu diesem Text


 Teichhüpfer (26.08.24, 04:24)
Die Schuld bekommt eigentlich der Selbstmörder. Es ist unglaublich schwierig, da den Vorhang zu ziehen. Um so länger es gelingt, da abzuwinken, desto besser kann dein Problem verarbeitet werden.

 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 16:02:
Im Zusammenhang mit Suizid mag ich gar nicht von Schuld sprechen.
Na, vielleicht bei Adolf Hitler schon.

 Teichhüpfer antwortete darauf am 26.08.24 um 16:11:
Graeculus, die Engländer bestrafen das ganz extrem.

 Graeculus schrieb daraufhin am 26.08.24 um 17:18:
Da bitte ich um eine Erklärung. Viele Nazis haben ja 1945 Suizid begangen, weil sie die Rache (oder Strafe) der Alliierten fürchteten. Daß jemand speziell in englischer Haft Suizid begangen hat, weiß ich nur von Heinrich Himmler, dem Reichsführer-SS.

 Teichhüpfer äußerte darauf am 26.08.24 um 17:48:
Ist das eine erzwungene, gewollte Aktion wie bei mir. Ich gebe den Nazis übrigens Recht mit nach 1945.

Teichi

 Graeculus ergänzte dazu am 26.08.24 um 23:27:
Inwiefern gibst Du den Nazis nach 1945 recht? Ich gebe denen nichtmal vorher recht.

 Teichhüpfer meinte dazu am 26.08.24 um 23:45:
Dem Suizid mehr nicht.

 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 23:50:
Ach so, daß sie sich umgebracht haben. Goebbels, Himmler und Hitler hätte ich allerdings gerne vor Gericht gesehen.

 Teichhüpfer meinte dazu am 27.08.24 um 01:58:
Das Gebiss von Hitler wurde vor dem Bunker in Berlin gefunden. Die Alliierten haben Aufnahmen, wo er wie Charlie Chaplin guckt und draußen steht. Es sah so aus, als wenn Hitler in einem Panzer die Umgebung verläßt. Ich meine, daß es tatsächlich das Grauen in sich sein soll, weil die anderen so tun, als ob sie nix damit zu tun haben, und das stimmt nicht. Ich denke auch, das scheint so gewollt, und deswegen bin ich der Meinung, daß die ein Recht zum Suizid haben.
Geist von etwas (99)
(26.08.24, 05:50)
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 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 16:07:
Wo ich das erlebt habe - die vorliegende Geschichte ist klarerweise fiktiv -, daß jemand unter üblen Umständen in der Öffentlichkeit gestorben ist, hat es nur Gaffer gegeben.
Die unter Schock Stehenden, das waren die unmittelbar Beteiligten, also der Beifahrer oder der verursachende Unfallfahrer. Davon ist ja hier nicht die Rede.

Aber es mag solche Fälle geben.
Für die Konstruktion meiner Geschichte ist das m.E. nicht wesentlich.

 Mondscheinsonate (26.08.24, 05:53)
Hast du gerade Hornby gelesen?

 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 16:12:
"A Long Way Down", das habe ich vor Jahren mal gelesen, hatte ich hier jedoch nicht im Sinn.

Wie Du weißt, geht mir das Thema immer wieder mal durch den Kopf, und hier wollte ich ausdrücken, daß man nie so ganz genau weiß, wann es wirklich keine Perspektive mehr gibt.

Nichtsdestowenigerungeachtettrotz danke ich für die Erinnerung an ein gutes Buch.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 26.08.24 um 19:11:
Das stimmt, deshalb empfinde ich Suizid bei nicht unheilbaren Krankheiten furchtbar. Da ich 2014 eine Depression hatte, kann ich es aber - trotz meines ständigen Kampfs dagegen- nachvollziehen. Wenn man keine Freunde und eigene Stärke hat, ist es schwer.
Grins, aber interessant, dass Du sofort gewusst hast, welches Buch ich meine. Sehr großartig, das Werk.

Antwort geändert am 26.08.2024 um 19:12 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 23:26:
Das Buch, ja. Ich habe nochmal nachgeschaut und gefunden, daß ich es nicht besitze; das hat mir damals jemand geliehen.

Unheilbare Krankheit ist ein Ansatz, nur daß ich auch unheilbare psychische Lagen dazu rechne; und glaube mir, ich meine nicht solche, mit denen man zu einem Therapeuten gehen kann.
Ich zögere, David Foster Wallace dazu zu zählen, doch ich kenne die genauen Umstände nicht. Manche Menschen werden mit einem Blick auf die Welt (gleichsam) geboren, für den es keine Heilung gibt, außer den Tod.

O.k., weder Du noch ich befinden uns derzeit in einer solchen Situation.

Was waren die letzten Worte des Sokrates? "Denkt daran, daß wir dem Asklepios [dem Gott der Heilkunst] einen Hahn [ein Dankopfer] schulden; opfert ihm den und vergeßt es nicht!" Mache Dir bewußt, wofür, für welche Heilung er danken wollte und es logischerweise nicht selbst tun konnte.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 26.08.24 um 23:30:
Hinzu kommt, jeder Mensch durchlebt Depressionen anders.

 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 23:54:
Natürlich. Allerdings habe ich - als Laie - nicht den Eindruck, daß alle Suizidenten im klinischen Sinne depressiv waren bzw. sind. Auch Sokrates nicht, der zwar hingerichtet worden ist, aber das offenbar so wollte.

Bei Wien denke ich gerne an Ludwig Hirsch, den ich über die Maßen schätze. Lungenkrebs, unheilbar - da ist der Gang aus dem Fenster eine Alternative.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 27.08.24 um 05:53:
Nicht nur er, viele. Die Hochburg des Selbstgehens ist Tirol. Man munkelt wegen des Föns.

 Graeculus meinte dazu am 27.08.24 um 16:07:
Wegen des Föns? Das klingt nach einem irren Grund! Aber wer weiß, wie der sich auswirkt bei Menschen, die eh schon unter Migräne leiden?

 toltec-head (26.08.24, 08:36)
Und für die nicht ganz so mutigen, heißt es auch heute wieder: Text bei kV raushauen.

Weitermachen...

 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 16:13:
Wir müssen weitermachen ... noch eine Weile.
Je suis encore vivant.
Geist von etwas (99)
(26.08.24, 17:37)
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 Graeculus meinte dazu am 26.08.24 um 23:20:
Es muß passiert sein, während der Protagonist auf dem Weg nach oben war. Denn als er in den Aufzug gestiegen ist - er wohnte im Erdgeschoß und konnte deshalb nicht von seiner Wohnung aus springen -, gab es noch keinen Auflauf vor dem Haus. Für den einen ging es aufwärts, für den anderen abwärts.

 EkkehartMittelberg (27.08.24, 17:34)
Der Anruf: Es gibt tödliche und lebensrettende Zufälle. Aus religiöser Sicht war der Anruf eine Fügung.

LG
Ekki

 Graeculus meinte dazu am 28.08.24 um 00:09:
Die Geschichte ist ja ausgedacht. Sollte einem sowas wirklich passieren, käme man ins Grübeln. Ich dächte dann: Warum hat den Alkoholiker niemand angerufen?
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