"Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden Unstete Fahrt habt Acht habt Acht die Welt ist voller Morden“ (von Walter Flex, "Im Felde zwischen Tag und Nacht")
Dieses Lied mussten meine Mitschüler und ich im Turnunterricht am Anfang jeder Sportstunde singen und währenddessen in der Turnhalle immer im Kreise laufen. Da war ich noch ganz neu auf dem Gymnasium und ich hatte Angst. Angst vor dem Turnlehrer, Herrn A. Der war ein klobiger Klotz und behandelte uns Kinder wie Soldaten, die auf dem Kasernenhof marschierten. Er beleidigte mich, indem er zu mir sagte: “Du siehst aus wie ein Dorsch” und zu einem anderen Mädchen sagte er: Birgit***ká und betonte es so wie bei Brigitte Bardot. Sie hatte einen Schmollmund. Er starb später nach einem Verkehrsunfall und ich bekam auf seiner Beerdigung in der Nikolaikirche einen Lachanfall. Später hörte ich, dass es so etwas manchmal gibt. Und „Hoch auf dem gelben Wagen“, und „Wenn die bunten Fahnen wehen“ mussten wir auch singen. Das ganze Programm des deutschen Volksliedguts. Ich dachte, das wären Lieder aus der Nazizeit und musste mich eines Besseren belehren lassen. Dass Hitler nur die Lieder missbraucht hätte, sagte mein Freund zu mir, der älter war als ich und dessen Vater Ritterkreuzträger war und bei der Legion Condor gekämpft hatte. Im spanischen Bürgerkrieg, wovon Pablo Picasso sein Bild gemalt hatte „Guenica“. So locker wie man damals umging mit empfindsamen Kinderseelen, wo Morden an der Tagesordnung war, so musste man sich dann auch nicht wundern über die folgenden 68er Proteste der Studentenbewegung. Am Anfang meines Sextanerlebens habe ich mich einmal in der Umkleide versteckt, weil meine Mutter mir die Turnhose meines großen Bruders mitgegeben hatte. Ich schämte mich damit, zumal ich ohnehin gemobbt wurde. Denn ich war ein Vertriebenenkind, da hatte man es naturgemäß schwerer. Und was noch dazu kam: Ich schielte außerdem und trug eine Brille. Unvorstellbar, was Kinder damals so aushalten mussten im Vergleich zu heutzutage. Mobbing von Lehrern, von Kindern und wenn sie Pech hatten auch noch von deren Eltern und von den eigenen Eltern. Die waren häufig sehr erschöpft.
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