Tante Martha

Skizze zum Thema Historisches

von  Gabyi

Martha B. war eine Nachbarin unserer Familie in der Altstadt der kleinen Hafenstadt. Wir Kinder nannten sie Tante Martha und sie wohnte zwei Häuser weiter links von unserem alten Haus, das meinem Opa gehörte. Tante Martha hatte ihr Häuschen liebevoll restauriert und hergerichtet mit geradezu jugendlichem Charme. Tante Martha war alleinstehend, hatte keine Kinder und mein kleiner Bruder und ich besuchten sie manchmal, um uns bei ihr Bonbons abzuholen. Sie hatte in ihrem Haus, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, eine Untermieterin namens Frau P***ler, die immer betonte: “P***ler wie Adler”. Sie war zu uns Kindern schlecht gelaunt, mürrisch und unfreundlich, arbeitete als Pharmareferentin und es wurde erzählt, sie deckte sich mit weiblichen Hormonen ein, welche sie wahrscheinlich auch selber zu sich nahm. Vermutlich erlitt sie deswegen einen frühen Schlaganfall, der sie in den Rollstuhl zwang. Tante Martha schwieg dazu und hatte nur Mitleid mit ihr. Wir Kinder nannten sie Tan'Martha und mein kleiner Bruder hatte die Angewohnheit, alte Menschen kurz bevor sie vermeintlich starben, mit dem Kassettenrecorder aufzunehmen. Am Ende nannte er diese Aufnahmen “Kuriositäten”. Auch unsere Tante Betty, die an Kinderlähmung erkrankt war, wurde Opfer dieser Angewohnheit. Da ihre Sprache etwas beschädigt klang aufgrund der Erkrankung, sagte ich ihm: “Das ist pietätlos!” und angeblich vernichtete er das Tonband mitsamt dem “Kuriosen Archivgut”, wie er es später nannte. Tante Marthas “Archivgut” blieb jedoch erhalten. Sie plaudert darin im alten plattdeutschen Slang unverblümt von der Historie des Städtchens E. mit seinen zahlreichen “Rökerien” und davon, dass ihr Bruder “verdrunken” sei. Das bedeutet soviel wie “Räuchereien” und “ertrunken”. Tatsächlich und kurz nach der Tonbandaufnahme verstarb Tante Martha - plötzlich und erwartet.



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