Kevin allein zu Haus

Tagebuch zum Thema Kinder/ Kindheit

von  IngeWrobel


Wenn ich mich an Filme erinnere, die ich vor längerer Zeit sah, gibt es meistens eine Schlüsselszene. Wie auf Knopfdruck taucht bei Nennung des Titels diese eine bestimmte Szene vor meinem geistigen Auge auf.

Bei dem Film „Kevin – Allein zu Haus“, der kürzlich im Fernsehprogramm wiederholt wurde, ist es diese Flugzeugszene: Kevins Mutter, mit ihrer gesamten Bagage auf dem Flug von Amerika nach Paris, grübelt darüber nach, was zu tun oder mitzunehmen sie vergessen hat. Sie zählt einige Dinge auf, die infrage kämen – dann aber gleich wieder verworfen werden. Doch, Kevins Vater vergaß, die Garage zu schließen ... nicht so schlimm! Aber dann fällt der Mutter ein, ihren Filius vergessen zu haben: „Kevin!“ schreit sie mit weit aufgerissenen Augen.
Was dann folgt, ist ein Klamauk, den ich mir nicht ein drittes oder viertes Mal antun wollte. Vandalismus und Gewalt sehe ich mir nicht gerne an – auch nicht von einem engelsgleichen Blondschopf, der ein für sein Alter erstaunliches Schauspieltalent zeigt. Nach dieser Schlüsselszene schaltete ich deshalb den Fernsehapparat aus.
Mir war nur wichtig, zu sehen, wie es zu dieser Situation im Flugzeug kommen konnte, denn das hatte ich über die Jahre vergessen.
(Das ist eine Macke von mir: Ich will immer wissen, wie es „dazu“ – wozu auch immer – kam.)
Beim Anschauen des Filmanfangs fand ich interessant, wie Kevin reagiert, als er erkennt, dass man ihn vergessen hat. Er ist überglücklich und macht Dinge, die er sonst nicht tun dürfte: Hüpft mit Schuhen auf dem Bett herum, als sei es ein Trampolin; isst Unmengen von Eis; und im Bad versucht er, mittels Daddys Utensilien, sich den nicht vorhandenen Bart zu rasieren.
Kevin „genießt“ das Alleinsein – Angst hat er nicht. Wenn man den Film bis zu dieser Stelle angesehen hat, erscheint das durchaus plausibel und nicht ungewöhnlich. Jetzt kann er „die Sau rauslassen“ und alles machen, wofür er sonst bestraft würde.
Kevin ist ein Kind, das sich geliebt weiß – trotz der ständigen Streiche der Geschwister und der Erziehungsmaßnahmen der Eltern.

Kinder, die sich der Liebe ihrer Eltern nicht sicher sind, reagieren anders, wenn sie „vergessen“, alleingelassen wurden:

Da gab es den Fall des kleinen Jungen, der mit seinen Eltern per Auto unterwegs war. Man hatte zwischendurch angehalten und eine Pause gemacht. Als die Eltern, ins Gespräch vertieft, weiterfuhren, dachten sie nicht an ihren Sohn. Dieser lief laut weinend hinter dem Wagen her und rief: „Nehmt mich doch mit! Nehmt mich doch mit!“ Nun ja, nach kurzer Zeit bemerkten die Eltern das Fehlen des Kindes, fuhren zurück und luden es ein. Was aber, frage ich mich, muss dieses Kind in den bangen Minuten durchlitten haben, als es dem wegfahrenden Auto hinterherlief?

Und dann gab es noch den Fall des Mädchens, das von seinen Eltern mitten in einem finsteren Nadelwald im Auto zurückgelassen wurde. Dieses Kind hatte Angst. Es rechnete damit, dort ausgesetzt worden zu sein, weil es zuhause störte, sich überflüssig, ja ungeliebt fühlte. Gab es da nicht entsprechende Vorgänge im  Märchen?
Und was tat dieses Mädchen? Es kramte aus dem Handschuhfach Papier und einen Bleistift hervor, und schrieb sein erstes Gedicht. Das Gedicht hieß „Waldfrieden“, hatte drei Strophen und fast perfekte Reime, und wurde zwei Wochen später in der Tageszeitung abgedruckt. Es gab ein Honorar von 5 DM.
Dieses Kind hatte seinen „Rettungsanker“ für alle noch folgenden Lebensstürme entdeckt: das Schreiben.
Von durchlebter Angst, von seelischen Verletzungen und dergleichen, war in den meisten der vielen folgenden Gedichte nichts zu erkennen. In wohlgesetzten Worten wurde überwiegend Schönes gesagt, das der Phantasie entsprang. Wie’s da drinnen aussah, ging niemand was an! Nur manchmal konnten aufmerksame Leser etwas aufblitzen sehen, ahnen, was in der Tiefe lag und schwelte, wie ein nicht löschbarer Brand.
Als Autorin verwendete sie eine Zeitlang die Signatur: „Kunst ist immer ein Schrei; aus dem Untergrund der Gesellschaft – oder aus der Tiefe der Seele.“
Sie, meine Leser, wissen bestimmt längst den Namen des Mädchens ... 



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Kommentare zu diesem Text

Teichhüpfer (63)
(23.12.24, 05:04)
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AndreasGüntherThieme (65) meinte dazu am 23.12.24 um 13:59:
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Teichhüpfer (63) antwortete darauf am 23.12.24 um 14:46:
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 IngeWrobel schrieb daraufhin am 23.12.24 um 15:57:
Lieber Jens, 
ich dachte, dass die Leser erraten, dass es sich um einen autobiografischen Text handelt – einen "Erfahrungsbericht". 
Aber gerne antworte ich Dir auf Deine Frage persönlich: Ja, dieses Mädchen damals hieß Inge Wrobel. 
;)   
Ich wünsche Dir schöne Feiertage und Gesundheit und Glück im Neuen Jahr!  
Inge  :)
Teichhüpfer (63) äußerte darauf am 23.12.24 um 18:39:
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Lorolex (46)
(23.12.24, 05:53)
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 IngeWrobel ergänzte dazu am 23.12.24 um 16:29:
Hallo Lorolex, 
danke für Dein aufmerksames Lesen und die Empfehlung des Textes. In meinem Signatur-Text geht es mir um die "Initialzündung" zum Schreiben. Das ist der persönliche Grund, also auch das Unterbewusstsein, die gequälte Seele, aber das sind auch die Verletzungen von aussen, auf die der Dichter keinen Einfluss hat. 
Ich freue mich über Dein Mitdenken über meinen Text! 
Liebe Grüße 
von der Inge
AndreasGüntherThieme (65)
(23.12.24, 14:12)
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Teichhüpfer (63) meinte dazu am 23.12.24 um 14:59:
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AndreasGüntherThieme (65) meinte dazu am 23.12.24 um 15:02:
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 IngeWrobel meinte dazu am 23.12.24 um 16:45:
Hallo AndreasGünther, 
sachlich betrachtet gibt es sicher viele Möglichkeiten, warum  Eltern ein Kind kurz allein lassen und in diese Situation bringen. Aber für das Kind war es ein traumatisches Erlebnis, weil es ihm an Urvertrauen mangelte. 
Der Mangel an Liebe in den jungen Jahren hat schon bei etlichen Künstlern dazu geführt, dass sie sich Bestätigung durch ihre Werke holten. 
Danke für die Empfehlung und liebe Grüße von 
Inge
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