Die Tanzschule oder Lockergang ist aller Laster Anfang

Erzählung zum Thema Tanz(en)

von  EkkehartMittelberg

Heute möchte ich von einer Schule erzählen, die in den 50er Jahren eine größere Bedeutung hatte als heute: die Tanzschule.

In meiner Heimatstadt gab es zwei und die zukünftigen Schüler wurden umworben. Mit solcher Gunstbezeugung gingen unsere Gymnasiallehrer eher zurückhaltend um.

Ein großer Teil meiner Klasse besuchte mit mir die Tanzschule Lockergang/Knicks.* Bevor es jedoch dazu kam, erklärte uns unser Lateinlehrer: “Lockergang ist aller Laster Anfang, aber glauben Sie ja nicht, dass wir hier die Zügel schießen lassen!“ Er konnte jedoch nicht verhindern, dass uns die Tanzschule wichtiger erschien als die Information, dass Gallien in drei Teile geteilt war.

Korrekt, wie es damals üblich war, fanden wir uns, brav gescheitelt in unseren Konfirmationsanzügen, und die Damen, ebenfalls mit Rock und Bluse herausgeputzt, aufgeregt zu unserer ersten Tanzstunde ein. Mit einem Wettlauf quer durch den Tanzsaal suchten wir uns unsere Tanzpartnerin aus, und dann war unsere größte Sorge, uns nicht alles zu verscherzen, indem wir gleich zu Beginn auf ihren zierlichen Fuß traten.
Herr Lockergang, pädagogisch geschickt, wusste das jedoch am Anfang weitgehend zu verhindern, indem er mit dem einfachsten der damals üblichen Tänze, dem Marschfox, begann.
Der Herr musste nur vier Schritte vorwärts und dann nach links zwei Seitschritte machen, den sogenannten Seitschluss. Herr Lockergang, ein bejahrter Herr von etwa 70 Jahren, gab mit hoher Fistelstimme das Kommando: “1,2,3,4, Seitschluss, Seitschluss! Kaum hatten wir das begriffen, unterstützten wir ihn mit unserem Stimmbruch, ließen ihn bis vier zählen und brüllten dann im Chor:“Kurzschluss, Kurzschluss!“ Er blieb dabei recht gelassen und quittierte den jugendlichen Übermut mit einem souveränen Lächeln.
Man munkelte, dass er mit Frau Knicks in einer „wilden Ehe“ lebte, wie man das in den Fünfzigern nannte. Ihr war dieses Gerücht nicht einerlei. Wenn Nachzügler kamen und die Hausglocke betätigten, riefen wir: „Frau Lockergang, es hat geschellt!“
Das brachte sie auf die Palme, und sie erklärte uns erregt. „ Muss ich es Ihnen denn immer wieder sagen: „Ich bin nicht Frau Lockergang, ich bin Frau Knicks.
Es dauerte nicht lange und wir lernten den Foxtrott, begleitet von  einem schmissigen Schlager, der wieder Anlass gab, uns über die wilde Ehe zu mokieren.. Herr Lockergang setzte sich sehr aufrecht an den Flügel - wir dichteten ihm ein Gipskorsett an - und spielte inbrünstig von Bully Buhlan:
„Ich möcht auf deiner Hochzeit tanzen,
eine ganze Nacht lang tanzen,
immer nur mit einer tanzen,
nur mit dir.“
Als die aufregendsten Tänze einstudiert wurden, war es dann so weit, dass der eine oder andere von uns auch mal einen Fehltritt machte, beim Tango, beim Boogie Woogie oder Rock'n'Roll.
Beim Tango war der sogenannte Wiegeschritt der Clou. Einige Damen ließen sich dabei sehr weit zurückfallen und wir sahen die Gelegenheit zum Körperkontakt, wollten der Angebeteten in die Augen schauen und verloren fast das Gleichgewicht.
Der Boogie und der Rock'n'Roll waren damals besonders beliebt, weil sie mit zwei musikalischen Perlen glänzten, auf die wir besonders scharf waren, nämlich „In the mood“ von Glenn Miller und „Rock around the clock“ von Bill Haley. Bei dem hohen Tempo vergaßen einige von uns die einstudierten Schritte und stampften, wider Willen improvisierend, ungestüm drauflos. Wenn alles gut lief, bildeten wir eine Schlange und tanzten, schön geordnet, ein Paar hinter dem anderen her. Beim Boogie gab es jedoch Karambolagen und Herr Lockergang musste uns geduldig wieder in Reih und Glied bringen, bis das nächste Stolperpaar wieder ein kleines Chaos auslöste.

Diese Tanzstunden waren medizinisch betrachtet recht gesund, denn sie brachten unseren Puls mehr auf Touren als der Sport in der Schule. Der Pulsschlag erhöhte sich noch einmal, wenn wir unsere Damen, wie es offiziell erwünscht war, nach Hause brachten und es den Mutigeren gelang, sie zu einem Umweg durch den Stadtpark zu überreden. Aber die alten Parkbäume haben sicher von späteren Jahrzehnten Aufregenderes zu erzählen, denn wie mir Klassenkameraden später gestanden, hat dort niemand seine Bubenschaft verloren, obwohl man sich damals am Tage nach den Tanzstunden in geheimnisvolles Schweigen hüllte.
Die Krönung unserer Tanzstundenzeit waren sogenannte Hausbälle, zu denen sich ein paar Spezis mit ihren Partnerinnen trafen. Reizvoll war dabei zum einen , dass die strenge Kleiderordnung außer Kraft gesetzt wurde. Die Herren trugen enge schwarze Hosen mit Ringelsocken und verwegen bunte Schlipse und die Damen ließen ihre Petticoats wippen. Zum anderen waren wir frei bei der Auswahl unserer Lieblingsmusik, die mit unserer Schüchternheit kokettierte. So sang zum Beispiel Rita Paul „Meine Mutti hat zu mir gesagt, das ist nichts für kleine Mädchen“ oder wir amüsierten uns mit dem Tango „Ach Egon“
Hier der Text, den Friedel Hensch & die Cyprys sangen:
Ach Egon, Egon, Egon,Egon Songtext
„Gnädige Frau, was ist denn bloß mit Ihnen heute los,
Warum sind Sie traurig, ist ihr Kummer denn so groß,
werden Sie, rein menschlich, uns die Frage wohl verzeihen,
Ja muss denn das, ja muss denn das so sein!

Egon, ich hab ja nur aus Liebe zu dir
Ja nur aus lauter Liebe zu dir ein Glas zu viel getrunken

Ach Egon, Egon, Egon,

Egon, ich bin ja nur aus Liebe zu dir

Ja nur aus lauter Liebe zu dir

so tief gesunken.
Was soll ich machen, ich weiß die Leute lachen
Doch ich muss immer weinen um einen, den Meinen

Ich bin am Ende, mir zittern schon die Hände,
Die Flaschen sprechen Bände,

die leer auf meinem Nachttisch stehn, ach

Egon, ich werde nur aus Liebe zu dir
Ja nur aus lauter Liebe zu dir
noch mal zugrunde gehn.“

Wir verstanden uns darauf, zu diesem Text einen Kontrast herzustellen und tranken brav unsere Erdbeerbowle. Doch ganz so harmlos waren wir auch wieder nicht. Wenn am Schluss die „Florentinischen Nächte“ von Rudi Schuricke aufgelegt wurden, ja dann haben wir geknutscht. 
                                                                                            März 2014









Anmerkung von EkkehartMittelberg:

Ich habe diesen Text vom März2014 noch einmal eingestellt, weil er einen unterhaltenden Kontrast zu meinem Gedicht „Der steile Zahn“ darstellt. *Der Name der Tanzschule ist fiktiv.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (08.01.25, 03:58)
Und die altmodischen Benimm-Regeln nicht zu vergessen, die spätestens die Siebziger Jahre dann hinwegwischten. Beispiel: Der Herr hat vor der Dame die Treppe hinaufzugehen, damit er ihr nicht unter den damals noch Knie-umspielenden Rock schauen kann. 
Zum Abschlussball dann lange Kleider und Hochwasserhosen am Konfirmationsanzug.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.01.25 um 18:26:
Was das angeht, hatte ich mit dieser Tanzschule Glück, Gina. Lockergang und Knicks konzentrierten sich auf das Tanzen.
LG
Ekki

 AchterZwerg (08.01.25, 07:16)
Ach, wie überaus hübsch, Ekki! :)

Manches ist mir nur vom Hörensagen bekannt (ich habe gleich mit dem Rock'n Roll begonnen), anderes steht mir sofort vor Augen.
Du schilderst die damaligen Sitten und Gebräuche, aber auch deren moralische Verwerfungen, ironisch und einfühlsam.
Erstaunlich, dass in diesem Sündenbabel doch noch etwas aus dir geworden ist!

Zwinkergrüße
Piccola

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 08.01.25 um 18:47:
Merci, Piccola, du erwähnst scherzhaft das Sündenbabel. Die sexuelle Aufklärung in den Fünfziger Jahren war mangelhaft und Verhütungsmittel waren für Jugendliche nicht leicht zugänglich. Die Meisten hatten deshalb Angst, über das Petting hinauszugehen. Doch die eine oder andere akademische Karriere wurde gestoppt. So entstandene junge Ehen mussten deshalb nicht unglücklich sein.
Bekennende Grüße :D
Ekki

 harzgebirgler (08.01.25, 08:02)
:) :) 
hallo ekki,

ganz toll erzählte tanzstunden-erinnerung!

...es gab von friedel hensch und 'egon'
auch eine cha-cha-cha version* -
war zwar vor meiner zeit doch mochte ich
den tanz sehr gern, ist mir erinnerlich... :D

* https://www.youtube.com/watch?v=u7FYZU9r2kw

lg
henning

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 08.01.25 um 18:58:
Gracias, Henning, in den Fünfziger Jahren gab es viele alkoholische Exzesse, die kaum problematisiert wurden. "Egon" nimmt den Alkoholismus herrlich auf die Schippe, ohne zu moralisieren. Kein Wunder, dass dieser Schlager auch zu rhythmischen Experimenten verlockte.
LG
Ekki

 willemswelt (08.01.25, 09:06)
sehr lebendig erzählt,Ekki und weckt natürlich Erinnerungen-gerade 

hallo Ekki,sehr lebendig deine Erzählung-
beim letzten Weihnachtstreff mit Kindern und Enkeln kamen wir darauf zu sprechen,was Weihnachten denn so `abgeht`und mein Beitrag war,wie der zweite Weihnachtstag-wenn genug Weihnachtsstimmung gewesen war-zu meiner Zeit ablief: Tanz im Dorfsaal mit genau dem Verhalten,wie du es etwa beschreibst.an der Theke standen wir jugendlichen Männer mit Blick auf die sich allmählich mit Damen füllenden Tische-Ging die Musik los,stürzte die Thekenversammlung auf die Tische los-zum Glück war ich ein ganz  guter Tänzer,der schon vorher mit intensivem Blick und mit angedeuteten Gesten Kontakt aufgenommen hatte-so bekam ich meine Herzensdame für diesen Abend
-hat Spaß gemacht,deinen Text zu lesen,lieben Gruß,Willem

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 08.01.25 um 19:06:
Genau so kenne ich das auch, Willem. Auch ich verständigte mich meistens vorher mit Blicken und musste mich deshalb wie du nur selten an dem allgemeinen "Schweinsgalopp" auf die Damentische beteiligen.
Augenzwinkernde Grüße
Ekki

 Saira (08.01.25, 10:25)
Moin Ekki,

eine amüsante Erzählung mit schönen, lebendigen Bildern!

Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 08.01.25 um 19:14:
Grazie, Sigi, die Bilder aus jener Zeit fliegen mir noch heute zu, weil die ersten erotischen Erlebnisse sich dem jugendlichen Gemüt tief einprägten.

Herzliche Grüße
Ekki

 plotzn (08.01.25, 13:10)
Schöne Erinnerungen, Ekki!

Zu meiner Zeit waren Benimmregeln und Kleiderordnung schon etwas gelockert. Aber das Verhalten war ähnlich.

Das Egon Lied kenne ich noch gut, da mein Schwiegervater so hieß und es an seinen Geburtstagen immer gesungen wurde...

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.01.25 um 20:10:
Hallo Stefan,
es ist interessant, dass meine Generation die Benimmregeln und die Kleiderordnung nicht zum Anlass nahm, gegen die Tanzschule aufzubegehren. Ganz anders war das mit der Schule. Wir revoltierten massiv gegen die meisten unserer Lehrer (nicht mehr auf der Oberstufe) und hatten zum Teil Erfolg, weil sie resignierten und die rigiden Leistungsanforderungen senken mussten. Ihre veralteten Methoden änderten sie jedoch nicht.

Liebe Grüße
Ekki

Antwort geändert am 08.01.2025 um 20:18 Uhr

 Graeculus (08.01.25, 15:35)
Die Musik war so altbacken in der Tanzschule! Wenn sie - jedenfalls in meinem Jahrgang - wenigstens "The Shadows" genommen hätten, die doch sogar Tangos im Repertoire hatten!

Du schilderst amüsant, was ich eher als quälend empfunden habe. Es war sozusagen die Fortsetzung des sterilen Musikunterrichts mit anderen Mitteln.
Es gab einen großen Kontrast im Hinblick auf den Musikgeschmack zwischen den alten und uns jungen Leuten.
Auch wenn Du, lieber Ekkehart, zehn Jahre älter bist, deutest Du an ("Rock Around the Clock", daß das auch damals schon der Fall war. Da sang bereits Elvis!

 Moppel meinte dazu am 08.01.25 um 17:10:
Es freut mich, dass dir die Tanzschule so ein Erlebnis war, Ekki. Mir war sie ein Graus, Ich habe immer gerne getanzt, aber ohne "Führung"... :P

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.01.25 um 20:56:
Hallo Wolfgang, 

meine Klasse war sehr musikbegeistert, reagierte aber auf die Musik der Tanzschule ganz anders, als du es beschreibst. Für uns war entscheidend, ob die dort gespielten Schlager gut tanzbar waren. Neben der Tanzschule tauschten wir aber regelmäßig Schallplatten aus, die klassische Musik und Jazz enthielten. Hier nur zu unserem Geschmack in puncto Jazz: Stan Kenton, Benny Goodman, Mike Davis und besonders Gershwin. Wir hatten einen exzellenten Pianisten in der Klasse, der uns nach Schulschluss auf dem Flügel in der Aula Stücke der eben genannten Komponisten vorspielte. Selbstverständlich interessierten wir uns auch für Elvis. Aber gibt es musikalisch einen wesentlichen Unterschied zwischen Bill Haley und Elvis?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.01.25 um 21:01:
Hallo Monika,
wir haben auch schnell improvisierend getanzt. Aber ich bin doch froh, in der Tanzschule die Grundschritte für unterschiedliche Rhythmen gelernt zu haben, mit denen wir, wie gesagt, kreativ umgingen.
LG
Ekki
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