Eine Taschenuhr erzählt

Erzählung zum Thema Zeit

von  EkkehartMittelberg

Das Antiquitätengeschäft hatte nur selten Gäste. So schwiegen sie vor sich hin, die Taschenuhr, das Grammophon, die Lampe, die Porzellanfigur, die Landkarte, das Spinett, die Vase und hingen ihren Erinnerungen nach. Gerade hatte einer der wenigen Kunden, die etwas Abwechslung brachten, den Laden verlassen, da durchbrach die Taschenuhr die Stille und fragte die Anderen: „Empfindet ihr auch die langsam verrinnende Zeit als quälend? Es kann sehr lange dauern, bis wir einen Käufer finden, der uns aus dieser Monotonie befreit. Warum unterhalten wir uns nicht und erzählen einander unser Schicksal?“  “Das ist eine gute Idee“, tönte das Grammophon, „du schaust aus, als hättest du so manche Stunde gezählt. Willst du nicht den Anfang machen und uns von deinen Erlebnissen erzählen?“
„Wenn ihr mich mit euren Geschichten entschädigt, will ich gerne beginnen“, sagte die Taschenuhr. „Einst gehörte ich einem reichen Kaufmann, der sich verspekuliert und verschuldet hatte. Nun hatte der Gerichtsvollzieher eine Stunde festgesetzt, zu der sein Hab und Gut verpfändet werden sollte. Im letzten Moment hatte ihm aber ein Freund versprochen, dass er vor dem Erscheinen des Gerichtsvollziehers kommen würde, um ihm einen großzügigen Kredit anzubieten. Ihr hättet seine gequälten und ängstlichen Blicke sehen sollen, mit denen er mich immer wieder ansah, weil die Stunde der Liquidation näher rückte und der Freund noch nicht erschienen war.“ „Und kam der Retter noch rechtzeitig?“ wollten die Anderen wissen. „Nähere Einzelheiten kenne ich nicht. Aber eine Stunde später traf mich ein entspannter, glücklicher Blick und ich bin noch einige Zeit in der Tasche dieses Kaufmanns geblieben. Seine Geschäfte erholten sich wieder und er verliebte sich. Das waren noch Zeiten, in denen man sich mit einer Frau zu einem romantischen Rendezvous traf, bevor man mit ihr ins Bett stieg. Da stand der Verliebte an dem mit Taubenmist bekleckerten Denkmal, war natürlich zu früh gekommen und dachte, die Angebetete würde ihn stehen lassen. Voller Zweifel zückte er mich immer wieder, bis die Schöne endlich erschien und er mir Ruhe gönnte.“
„Kam es auch vor, dass dich nur glückliche Blicke suchten?“ wollten die Zuhörer wissen. „Ja, schon, antwortete die Uhr nach einigem Zögern, zum Beispiel vor der Abfahrt zum Standesamt. Aber die Menschen sind eigentümliche Wesen, sie machen sich Kummer, indem sie sich versetzen. Mein Bräutigam wartete auf seinen Trauzeugen, der sich am Tag vor der Trauung nach bestandenem Examen betrunken hatte. So warf er gehetzte Blicke auf meine Zeiger, die weiter eilten, ohne dass ich sie aufhalten konnte.“
„In welchen Situationen haben dich deine Besitzer am meisten genutzt?“ fragten die Zuhörer.„Natürlich gibt es individuelle Unterschiede, aber ich werde sehr oft in Standardsituationen beachtet: bei Geburten, vor Prüfungen, bei Hochzeiten und leider auch bei Beerdigungen, die oft nur aus schlechtem Gewissen besucht werden und mit knapp bemessener Zeit, die von scheinbar wichtigeren Geschäften abgezogen wird.“ „Hat sich das Verhalten deiner Nutzer geändert?“ wollten die Zuhörer noch wissen. „Ganz bestimmt“ erwiderte die bejahrte Taschenuhr, früher betrachtete man mich auch mal einfach nur deswegen, weil ich schön bin und die Zeit war nur ein Vorwand. Es kam sogar vor, dass man mich aus Langeweile hervorholte. Heute verkomme ich zum reinen Wertgegenstand. Time is money.“
Gerade hatte die Taschenuhr das gesagt, als ein altmodisch gekleideter älterer Herr das Geschäft betrat und sein Blick von ihrer Schönheit gefangen wurde. Er ging zielgerichtet auf sie zu.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (10.02.19)
früher betrachtete man mich auch mal einfach nur deswegen, weil ich schön bin und die Zeit war nur ein Vorwand.
Ob Dinge jenseits von ihrem Nutzen Schönheit besitzen, ist natürlich eine spannende Frage. Dabei kann man heute konstatieren, dass der Nutzen im Vordergrund stehen muss. Ist das Ding dann noch schön, umso besser.

Allerdings fällt mir da etwas (von weltgeschichtlicher Relevanz) ein, dass diese Ordnung in Frage stellen kann. Kaiser Wilhelm II. war bekanntlich ein Flottennarr. Schiff um Schiff ließ er für seine Kriegsmarine bauen. Auf der anderen Seite wissen wir heute ganz genau, dass er keine Krieg wollte (zumindest keinen Weltkrieg) und dachte, da die Serben das österreichisch-ungarische Ultimatum größtenteils angenommen hatten, dass damit jeder Kriegsgrund entfallen sei.

Es ist womöglich eine Verkürzung meinerseits, aber ich habe den Eindruck, er mochte die Kriegsschiffe ihrer Schönheit wegen. Kaputt machen - das passiert ja in einem Krieg mit Kriegsgerät- wollte er sie nicht. Er wollte sich an ihrem Anblick erfreuen.

Diese Überlegung mag absurd wirken. Aber angesichts dessen, was zwischen August 1914 und November 1918 geschah, war dieses Verhalten von Wilhelm II. nicht das Absurdeste seiner Zeit. (Wenn auch teurer als eine Taschenuhr, zugegebenermaßen.) Und wer sich an der Schönheit eines Dings erfreut, hält auch immer inne. Eine gute Alternative zu ständigem Aktionismus, finde ich.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.02.19:
Trekan, du hast bestimmt den Vergleich mit der Wertschätzung der Flotte durch Kaiser Wilhelm II mit einem Augenzwinkern gewählt. Er macht nachdenklich und ist zugleich amüsant. Merci.

 monalisa (10.02.19)
Lieber Ekki,
so bekommt die Taschenuhr wohl doch wieder einen Besitzer, der ihre Schönheit zu schätzen weiß 😊.
In deiner Erzählung lese ich von Zeit und Zeiten, die ‘gute alte Zeit‘ den ’modern times‘ gegenübergestellt, von Zeiten, die dahinkriechen (etwa, wenn man sehnsüchtig auf die Angebetet wartet) und solchen, die vorbeirauschen, in denen man die Zeiger anhalten möchte. Es gibt die bangen und die hoffnungsvollen Blicke auf die Uhr, und es gibt Zeiten, da einem gar keine Zeit bleibt, auf die Uhr zu sehen, auch jene Zeiten, in denen die Zeit ganz und gar Nebensache wird, man sich ihrer gar nicht bewusst ist … Das ganze in eine hübsche Geschichte verpackt. Man darf gespannt sein, was die anderen Antiquitäten erzählen werden, sofern es eine Fortsetzung geben wird.

Liebe Grüße
mona

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 10.02.19:
Wunderbar, Mona, ich kann mich darauf verlassen, dass du die Intention meiner Texte erkennst. Ja, mir ging es um einige Aspekte von Zeit und Zeiten, gespiegelt durch die Taschenuhr. Grazie und liebe Grüße
Ekki
Sätzer (77)
(10.02.19)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 10.02.19:
Ja, Uwe, es ist meine Absicht, tot geglaubten Dingen etwas Leben einzuhauchen. Merci.
LG
Ekki

 TassoTuwas (10.02.19)
Hallo Ekki,
eine gelungene Geschichte darüber, was uns die alten Dinge erzählen könnten, wenn wir uns Zeit nähmen. Es gäbe viel zu Schmunzeln und Staunen. Aber das ist wohl nur eine Minderheitenmeinung von Romantikern
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 10.02.19:
Ja, Tasso, so ist es. Nur wenige wissen die Schönheit alter Dinge zu schätzen. Auf dem Markt gilt nur ihr Tauschwert.
Herzliche Grüße
Ekki
Trainee (71)
(10.02.19)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 10.02.19:
Seltsam, Heidrun, während ich diese kleine Erzählung schrieb, habe ich auch einen Moment an die Sendung "Bares für Rares" gedacht. Vielleicht gehen positive Impulse von ihr aus, denn die Dinge und ihre Schönheit werden lange fachmännisch erläutert, bevor der Preis ins Spiel kommt. Merci.
Optimistische Grüße
Ekki

 Sternenpferd (10.02.19)
gefällt mir, schöne geschichte
;-)
wertschätzenden gruß
m.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.02.19:
Danke, du schaust nicht so oft in meine Texte. Umso mehr habe ich mich gefreut.
Lieben Gruß
Ekki

 Sternenpferd meinte dazu am 10.02.19:
ja sorry, geb ich zu^^
diese fand ich interressant da ich mit antiquitäten
seit über 30 jahren zu tun habe

 AZU20 (10.02.19)
Da wird so manches wieder lebendig. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.02.19:
Mehr kann ich mit der kleinen Geschichte nicht erreichen, Armin. Danke.
LG
Ekki

 Lluviagata (10.02.19)
Hallo Ekki!

Ob die "heutige Jugend" weiß, was ein Rendezvous, was ein Spinett, ein Grammophon, was eine Taschenuhr ist? Schon wegen dieser schönen alten Dinge, die Du benennst, der Romantik wegen, die dieser Geschichte innewohnt, bin ich begeistert. Vielleicht bin ich ja mittlerweile auch altmodisch geworden, aber das ist mir egal.

Lediglich die Erwähnung des Handys stört meines Erachtens die Harmonie des Ganzen. Denn davon weiß der Leser, das ergibt sich aus der Lehre, die uns die Geschichte vermittelt.

Liebe Grüße
Llu 💙

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.02.19:
Hallo Andrea, es ist immer schön, wenn man etwas hat, was einen verbindet, zum Beispiel unsere Liebe zu den alten Dingen.
Du hast recht. Der Hinweis auf das Handy ist entbehrlich. Ich habe ihn entfernt.
Liebe Grüße
Ekki

 princess (10.02.19)
Hallo Ekki,

als kleines Mädchen fand ich Taschenuhren umwerfend chic. Später interessierte ich mich dann mehr für deren Träger. Allerdings findest du mich heute noch beim Stöbern in Trödel- und Antiquitätenläden. Insofern wundere ich mich, dass ich in der Geschichte überhaupt nicht vorkomme. Der Taschenuhr-Erzählung habe ich trotzdem gern gelauscht.

Liebe Grüße
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.02.19:
Liebe Ira,
jetzt lächelt aber dein Humor in dem Thread und das tröstet ein bisschen für dein Fehlen in der Geschichte. :) Grazie.
Liebe Grüße
Ekki
Trainee (71) meinte dazu am 11.02.19:
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 princess meinte dazu am 11.02.19:
Ach, liebe Frau Trainee, Sie schon wieder mit Ihrer Phantasie! :-p

 GastIltis (10.02.19)
Hallo Ekki, das ist eine schöne Geschichte. Eigentlich fühle ich mich heute noch nicht ganz so, dass ich dazu schon ein paar Zeilen schreiben wollte. Aber manchmal geht es nicht anders. Weil ich eben auch Besitzer einer solch schönen Taschenuhr bin, das Geschenk meines Großvaters, der eben gerade heute vor 138 Jahren, am 10.2.1881 geboren wurde, und mir noch zu Lebzeiten diese Uhr übergeben hatte. Es ist natürlich nicht dieses extravagante Stück mit Sprungdeckel usw., aber dass diese Uhr natürlich einen von mir selbstgebauten kleinen Ständer mit zwei gedrechselten Säulchen auf einer ebenen Platte, alles in Eiche und auf einem Ehrenplatz stehend bekommen hat, versteht sich von selbst. Dass sie einmal am Tag aufzuziehen ist, ist kein Problem; die Ganggenauigkeit auch nicht. Das Filigrane der Zeiger vermittelt natürlich ein wesentlich anderes Zeitgefühl, als der Blick auf eine Zahlenfolge. Und die leichten Schwingungen, die sie, nunmehr hängend, Tag für Tag vollzieht, weisen darauf hin, dass die Vergänglichkeit doch nicht ganz mit Siebenmeilenstiefeln ihren Lauf nimmt. Ekki, manchmal trifft du ins Schwarze! Liebe Grüße von Gil.
PS: manchmal soll meistens heißen und meistens: immer!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.02.19:
Lieber Gil, welches Glück habe ich, dass du, im Besitz einer so schönen Taschenuhr, einen solch sachverständigen Kommentar schreiben konntest. Vielen Dank und herzliche Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (12.02.19)
Der Nutzen sinkt zwar, aber im Idealfall steigt die Wertschätzung. Das wäre nicht nur bei Taschenuhren eine wünschenswerte Entwicklung.
Gerne gelesen.
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.02.19:
Merci, Didi, so sehe ich es auch.
LG
Ekki
Sin (55)
(12.02.19)
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 harzgebirgler (05.05.21)
wer in der westentasche trug solch uhr
galt zweifellos als mann einst mit kultur.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.21:
Merci, so ist es, Henning,
für Protzer spielt der Preis keine Rolex, Lacoste es, was es will.
Aber bei Menschen mit Geschmack
machte die Taschenuhr ticktack.

LG
Ekki
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