Die Oberfläche zerreißen und den Mond betrachten

Prosagedicht

von  Redux

Zwischen den Kontoauszügen und den Gesprächen
über Vertragsverlängerungen, zwischen den verfeindeten
Parteien, dem Auswuchten der Winterreifen und dem Bericht
aus Berlin, der Lage in Nahost,
der Nerven zehrenden Diskussion
über alle diese Dinge, die die Welt nicht braucht...
( ich weiß: sie werden am schnellsten verwesen im Getriebe der Zeit,
sie werden am ehesten zermahlen, selbst wenn sie unsere Tage
überwuchern wie schnell wachsendes Unkraut, wie Mehltau, wie
Schimmel Obst an einem heißen Sommertag, wie das aalglatte
Grinsen des Politikeremporkömmlings, eine eintagsfliegenlebenlange,
wimpernschlagkurze Episode im Mühlwerk der Ewigkeit)...

schrie eine Blume

war ein kleiner Vers

aus vergangenen Tagen

war der Hauch eines Blumendufts aus versunkenen Kindertagen, am
Ende des Sommers, während Septemberbienen in faulenden Birnen gruben

der Geruch von Haaren, von Lippen, von betörendem Parfüm einer längst vergangenen Liebe

schrie ein Tag

schrie ein Gedanke

schrie ein Vogel im kahlen Geäst an einem Wintertag in klirrend kalter Luft,
über Schnee und Eis und Feld und träge fließendem Bach

schrie das, was bleibt

schrie das, was vielleicht eine Chance hat

in dem Strom, der uns mitzieht und wegnimmt und verwirbelt und knebelt
im Räderwerk des Jetzt, im Arschgesicht der Wirklichkeit aus
Nachrichten über Nachrichten und Stellungnahmen und Bilanzen,
aus dem Geflecht des Heute, dem desillusionierenden Quatsch unserer Tage,
dem Wirrwarr des Realen, dem wahnsinnigen Sinn der Vernunft,
der schäbigen Rückseite des Paradieses,

wir sehen die Sonne nicht und den Mond und die Sterne nicht

und Sand läuft Tag ein und Tag aus

wenn wir

vergehen



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Kommentare zu diesem Text


 Teichhüpfer (09.01.25, 05:59)
Wunderschön geschrieben, wir sind übrigens ein Mond vom Jupiter, so ist das anscheinend.

lg Teichi

 AchterZwerg (09.01.25, 08:15)
Grandios!

Zwischen all dem, das ich ebenso empfinde wie du (und sicherlich viele andere auch), habe ich mir vor einigen Tagen in einem Programmkino den höchst amüsanten, geistreich-heiteren Film angeschaut: "Liebesgrüße aus Nizza."
Es gab stehende Ovationen und ein glückliches Publikum.
Zumindest für den Augenblick.

Spornende Grüße ;)

 willemswelt (09.01.25, 09:50)
intensives Gedankenspiel über Wichtiges und Unwichtiges-sehr gelungen-einen GRuß zum Morgen,Willem
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