Tom und ich

Expressionistisches Gedicht

von  Redux

Drei Jahre nach meinem Tod
besuchte ich noch einmal Tom
in seiner Werkstatt an der Brücke.

Wir saßen auf der alten rostigen Eisenbank
und das Licht des Abends vergeudete sich
in Fächer verschiedenster Schattierungen.

Unten am Bahndamm spielten kleine Kinder,
so wie ich in den frühen Siebzigern,
suchten nach Schneckenhäusern
und huschten zwischen Kamille und Brennnessel
wie kleine flinke Rehe dahin.

„ Du siehst gut aus“, sagte Tom.
„ Findest du ?“, fragte ich skeptisch.
„ Doch, durchaus…“

Die Strahlen der untergehenden Sonne
hüllten den späten Augustabend
in eine Glocke aus bersteinfarbenem Gold.

Zwischen meinen skelettierten Rippen
brach sich das Licht
und floss funkelnd hinüber
zur lärmenden Kinderschar.

„ Ich habe abgenommen“, sagte ich.
„ Aber du siehst klasse aus“, antwortete Tom.

Ich blickte hinüber zu den Bergen am Horizont,
die ich als Kind „ mein wildes Räuberland“ nannte.

Ich hatte alles gehabt,
ich hatte alles aufgenommen,
und alles gab ich wieder zurück.

„ Tom, siehst du, die Sonne fließt durch mich hindurch…“

Wir saßen noch lange dort.
Fast ein Jahrzehnt.
Tom und ich.

Oder länger.





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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (23.01.25, 06:56)
Manchmal fühle ich ein Gefühl der Dankbarkeit, wenn es hier derartig Bemerkenswertes zu lesen gibt!

Von der Sprache her besticht mich die in der Lyrik absolut unübliche wörtliche Rede. Sie unterstreicht die Absurdität des Gesprächs (aber wer weiß ...).

Inhaltlich wird die Sehnsucht nach dem ewigen Licht umgesetzt, dem sog. Licht am Ende des Tunnels, dem Licht der Verheißung.

Und das Tröstliche: Es fließt durch uns hindurch!

Sehr schön!

 BeBa meinte dazu am 24.01.25 um 00:58:
Oh ja, 8er. Wie Recht du hast. Das gibt es noch, und deshalb schaue ich auch noch so ab und an hier vorbei.

Antwort geändert am 24.01.2025 um 01:01 Uhr

 FrankReich (23.01.25, 07:11)
So gering es immer erscheinen mag, würde auch ich mich von meinem Bewusstsein am liebsten nicht trennen wollen, aber leider geschieht das ja vollautomatisch. 🤔

Ciao, Frank

 lugarex (23.01.25, 08:10)
wunderbar!

 Brösel (23.01.25, 13:39)
Das Lyrische Ich erinnert mich an Anna aus  "Hallo Mr. Gott, hier spricht Anna".

 EkkehartMittelberg (23.01.25, 20:38)
Wesentliches kann man nicht aussitzen.

LG
Ekki

 BeBa (24.01.25, 01:00)
Danke, Redux. Ein toller Text, der mich absolut mitnimmt. Weit über die Zeilen hinaus! 

LG
BeBa

 Aron Manfeld (24.01.25, 16:09)
Du solltest Deinen neuen Teilzeitjob als Diätberater nun doch wirklich aufgeben, Herbert.

 Drita (24.01.25, 20:08)
Lieber Redux,

Es ist ein beeindruckendes Gedicht über Akzeptanz, Reflexion und die stille Schönheit des Vergehens – melancholisch, aber dennoch voller Frieden. HUT AB!

Liebe Grüsse
Drita
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