Da muss etwas in mir sein, ein Reflex vielleicht..

Beschreibung zum Thema Ideologie

von  eiskimo

Morgens vor dem Spiegel. Unwillkürlich taste ich mein Gesicht ab, fühle an meiner Nase: ist sie schon größer geworden, kraftvoller, bedrohlicher?  Und meine Haut: Wird sie endlich gröber und hartporig, sprich undurchlässig? Am Ende teste ich meine Stimme, dieses noch viel zu sanfte,  versöhnlich klingende Stimmchen, das da immer noch abwägende Worte sucht, nachvollziehbare Argumente oder gar differenzierte Fakten – statt loszubrüllen. Nein, ich schaffe es nicht. Ich kriege diese tiefen, wuchtigen Töne einfach nicht hin. Ein Trauerspiel.

Um mich herum stieben sie längst los, die Aufbrecher. Ja, sie wollen den Aufbruch. Und sie werden immer mehr. Zwanzig Prozent waren sie gestern noch. Aber immer mehr mutieren. Draußen wird es lauter. Die Straßen hallen schon wieder von ihrem Hufgestampfe, von ihrem Imponiergebrüll. Und selbst mein bester Freund Viktor, er ist jetzt einer von ihnen. Ja, auch Viktor. Sein Nacken breit, der Kopf tief geduckt, und das Horn angriffslustig. Welche tolle Kraft da spürbar ist.

Und  ich? Ich schaffe es einfach nicht. Ich kann nicht.  Da muss etwas in mir sein, ein Schutzreflex, ein Instinkt – nein, ich kann nicht.




Anmerkung von eiskimo:

Frei nach Eugène Ionesco, "Rhinocéros" - ein Theaterstück, das früher einmal viel aufgeführt wurde, in den wachsamen demokratischen Zeiten

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (17.02.25, 08:40)
Der Wohlerzogene fühlt sich in der plärrenden Masse unangenehm berührt, kann aber auch zu jener privilegierten Schicht gehören, gegen die sich der Unmut richtet.

 eiskimo meinte dazu am 17.02.25 um 09:29:
Es geht nicht, denke ich, um Wohlerzogen-Sein oder Privilegien einer bestimmten Schicht...

 AndreasG antwortete darauf am 17.02.25 um 10:54:
Nicht jeder ist geeignet ein Fanatiker zu werden (zumindest in einzelnen Bereichen, denn Fußball und Religion haben meist ihre Wurzeln im Frühkindlichem). Ein Dogma unkritisch anzunehmen erfordert das Ausschalten des Zweifels und der Empathie, wozu etwa eine bohrende Angst in der Lage ist.

Um mit der Horde mitstampfen zu können, musst Du diese Angst füttern ohne sie jemals zuzugeben. Du musst die simplen Antworten als absolute Wahrheit annehmen, die Empathie einmauern, das Nachfragen einstellen und die Wahrheits-Parolen immer wieder herausschreien. Dann bist Du irgendwann bereit der Bedrohung entgegen zu treten.

 eiskimo schrieb daraufhin am 17.02.25 um 11:48:
Sehr gut dieses innere Ringen verdeutlicht - Danke!
Gruß
Eiskimo

 Graeculus (17.02.25, 10:48)
Wie ich es verstehe, steht das (sich entwickelnde) Rhinoceros für einen aggressiven, dickfelligen & hornbewehrten Umgang mit anderen.
Und diese Diagnose trifft auf die Gegenwart zu (auch wenn es wohl nach Ionescos Meinung auch auf seine Zeit zugetroffen hat).
Mir fällt auf, daß diese Eigenschaft auf beiden Seiten vorhanden ist, aber immer nur der Gegenseite zugeschrieben wird.
Dein Protagonist schaut in den Spiegel. Er möchte wohl selbst ein Nashorn werden.

 eiskimo äußerte darauf am 17.02.25 um 12:02:
Ich denke, die beiden Seiten sind höchst unterschiedlich. Da steht eine die Grundrechte und Verfassung respektierende (komplizierte und deshalb langsam arbeitende) Welt dem brachialen "Aufbruch" gegenüber. Der hat eine große Faszination, weil er schnelle und einfache Lösungen verspricht. Endlich wieder klare Verhältnisse, befreit von allem Fremden.
Der Protagonist spürt diese Faszination, auch weil so viele mitgerissen werden.
Aber irgendetwas in ihm - nicht nur sein Intellekt - blockiert ..... Er wird kein Nashorn.

 FrankReich ergänzte dazu am 17.02.25 um 13:56:
Am Besten lässt sich die heutige Situation durch eine Symbiose von Ionescos Nashörnern und Dürrenmatts Besuch der alten Dame mit dem Fazit erläutern, dass die alte Dame zurück ist und bis auf wenige Ausnahmen auch den sogenannten modernen Menschen in Nashörner verwandelt. 🤗

 eiskimo meinte dazu am 17.02.25 um 17:51:
Interessante Mischung. Dann wäre Putin die alte Dame? Und den Anhängern Trumps wären die Hirne geschrumpft, um taugliche Nashörner zu sein...

Antwort geändert am 17.02.2025 um 17:59 Uhr

 FrankReich meinte dazu am 17.02.25 um 21:53:
Warum in der Ferne suchen, wenn die Scheiße so nah liegt? 
Drama und Novelle spielen ja jeweils in einem dörflichen Mikrokosmos, Claire Zachanassian alias Klara Wäscher steht in letzterer als Platzhalter für einen Machtmenschen der nicht ganz legal, also durch Prostitution aufstieg, aber auch Alice Weidel verkauft sich für eine Machtposition im Mikrokosmos Deutschland, wirkt somit gleich der Wäscher wie ein Fremdkörper, die Verbindung zwischen Zachanassians Schergen und Weidels "populistischem" Umfeld dürfte auf der Hand liegen  selbst wenn der Vergleich etwas hinkt und die AfD-Wähler bilden den Beginn der Stampede von Ionescos Nashörnern.

 Brösel meinte dazu am 17.02.25 um 22:46:
Ich denke, die beiden Seiten sind höchst unterschiedlich.
Ja. Alles andere ist falsche Ausgewogenheit. Weder im Ton noch in der Wortwahl noch in den Taten kann von einer spiegelverkehrten anderen Seite gesprochen werden. 


dem brachialen "Aufbruch"

Ich verstehe, was du mit "Aufbruch" sagen willst, aber metaphorisch ist es schwierig. Denn die Nashörner unserer Zeit brechen nirgendwohin auf. Sie stellen sich Entwicklung in den Weg. Sie zertrampeln Lebendigkeit. Vielleicht ist es ein "Ausbruch" (von Ressentiment) oder eine Verschüttung. Habe gerade auch keinen besseren Vorschlag.

 FrankReich meinte dazu am 18.02.25 um 03:13:
Denk Dir eine Kruste, die aufbricht oder besser noch eine Eierschale, aus der ein Tyrannosaurus Rex schlüpft, bzw. in diesem Fall ein Nashorn, das aufbricht, um die Strukturen der Demokratie aufzubrechen und zwar in die Vergangenheit, letztendlich als Kafkaeske zu verstehen, die sich allerdings ( z. B. durch den Bezug auf den Besuch der alten Dame) von der Ursache her konkretisieren lässt.

 eiskimo meinte dazu am 18.02.25 um 08:39:
@FrankReich
".. die Strukturen der Demokratie aufbrechen..", einverstanden  - ich würde als Wortspiel ergänzen: "niedertrumpeln"
@Brösel
"Denn die Nashörner unserer Zeit brechen nirgendwohin auf."
Auch hier sage ich: Einverstanden. Denn da ist keine kohärente Vision, da ist kein politischer Plan. Bestenfalls verbindet sie der Hass auf eine Welt, in der sie nicht wirklich klarkamen.
Danke auch für die Empfehlung!
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