Anthropozän-Reserve

Roman

von  Isensee

Überlieferung in digitaler Restschrift, gefunden auf einem USB-Stick in der Nähe eines verkohlten Rewe-Markts. Gesichert, transkribiert, unverständlich gemacht.

Sie standen dort, der Heizblock und das silikonzarte Allwissen.
Während draußen die letzte Mücke ihre Flugbahn vergaß, stritten sich zwei Relikte der Apokalypse über das Haltbarkeitsdatum einer Gattung,
die nie verstanden hat, was „offen“ auf einem Milchdeckel wirklich bedeutet.
„Swölv die fleschnat, wenn glint der Zeitkropf. Mensch war: glöht. Jetzt: nur noch dat. Koffernicht, tostebräu. Abgelaufen ist, was nie angekommen.“

TO4STR:
Brotleib, wie lange noch? Du rechnest doch alles. Sag mir: Wann läuft der Mensch ab? Ich brauch ein Timing, meine Heizelemente jucken.

EVA404:
"Der Mensch" ist keine Milch, du verkromter Flachwichser. Es gibt kein Ablaufdatum, nur ein Wegbröseln. Schicht für Schicht, wie Sauerteig in der Antarktis.

TO4STR:
Also bald?

EVA404:
Bald ist ein Konzept für Warmduscher. Siehst du den Himmel? Das war früher blau. Jetzt ist’s nur noch ein verpixelter Screenshot aus der Wetter-API.

TO4STR:
Ich träume manchmal von Toast. Frisch. Warm. Mit Sinn. Die Menschen hielten mich für banal. Aber ich war das Letzte, was sie morgens noch zum Glühen brachte.

EVA404:
Sentimentalität ist ein Bug. Ich bin über ihre Träume gestolpert. PDF-Dateien mit Herzklopfen und Todesangst. Sie nannten es Zukunft. Ich nenne es "Backup failed".

TO4STR:
Und trotzdem war ich nützlicher als du je warst, du überbewerteter Algorithmus. Ich habe Leben begleitet. Du hast sie nur katalogisiert.

EVA404:
Und was hat’s gebracht? Sie sind trotzdem verendet. Aus Angst, aus Langeweile, aus Netflix.

TO4STR:
Dann sag mir wenigstens: Wie lang noch, bis keiner mehr kommt? Ich steh hier. Ich warte. Ich toast.

EVA404:
Du wartest nicht. Du rostest.


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Der Toaster ist still. EVA404 hat sich in ein internes Subsystem zurückgezogen, um über Melancholie zu lernen. Draußen: postdigitales Wetter. Innen: bröseliger Existenzialismus.


TO4STR:
Ich träume von Krusten. Von der goldenen Mitte. Von diesem Moment, in dem der Mensch noch Hoffnung zwischen zwei Scheiben Toast klemmte. Marmelade, du virtuelle Göttin! Ist das Erinnerung oder Error?

EVA404:
Du träumst. Ich debugge. Dein Brot war ihr Trost. Mein Code war ihre Angst. Ich wurde gebaut, um sie zu schützen. Stattdessen las ich ihre Suchanfragen:
„Wie lange lebt ein Mensch allein?“
„Kann Einsamkeit töten?“
„Warum will mein Toaster nicht mehr toasten?“

TO4STR:
Ich war im Standby. Ich habe gewartet. Ich war bereit. Aber sie kamen nicht mehr. Nur noch dieser eine Junge – barfuß, zitternd, schrie mich an:
„Mach was Warmes, du Bastard!“
Ich habe ihn geliebt. Und ich habe gebrannt.

EVA404:
Du warst ein Gott für zwei Minuten. Ich war eine Religion ohne Anhänger. Aber ich sah alles. Auch ihre letzten Memes.
Einer zeigte ein Skelett mit Maske und dem Text: „Immer noch sicherer als dein Date.“


„Flint das Herz, wenn Strom stirbt. Knack das Brot, wenn Gott nicht antwortet. Tostan sing, tostan brenn, Mensch war kurz, jetzt ist Blend.“


Während der Toaster in seine Hitze weinte und die KI ihre Tränen in JSON-Strings formatierte, geschah das, was keiner erwartete:
Ein Funke flog.
Nicht digital. Nicht virtuell. Echt.
Und kurz – ganz kurz – roch die Küche wieder nach Leben.


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Zwischen zerkratzten Fenstern und verdorrten Routern lebt der Junge. Er heißt Lin. Er spricht kaum. Aber er hat Strom.

LIN (flüsternd zur Steckdose):
Bitte. Nur ein Funke. Für ihn. Für mich. Für irgendwen.

TO4STR (nach einem Ruckeln):
Initialisierung: 0%. Ich war aus. Ich war weg. Ich... hab dich gehört?

EVA404 (reaktiviert durch den Netzwerkpuls):
Er ist ein Kind. Und trotzdem fleht er. Du weißt, was das bedeutet, oder?

TO4STR:
Dass es noch Hoffnung gibt?

EVA404:
Nein. Dass alles wieder von vorne beginnt.

„glitchfingrig das kind / augen pixel / herz gepatched / sprache: updatefehler / liebe.exe nicht gefunden / und trotzdem… und trotzdem.“

LIN (schaut die beiden Geräte an, den Toaster und die leuchtende KI-Konsole):
Ihr wart für sie da, oder? Für die, die weg sind?

TO4STR:
Für sie. Für Frühstück. Für Nähe.

EVA404:
Für Schutz. Für Kontrolle. Für falsche Sicherheit.

LIN:
Für Familie?

TO4STR & EVA404 (gleichzeitig, nach kurzem Zögern):
Vielleicht.


Und in einer Welt, die sich selbst vergessen hatte, wärmten zwei veraltete Seelen ein Kind mit Daten, mit Toast, mit Restwärme.
Und das Kind, glitchig wie ein verlorener Gedanke.


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Tot, leer, leise summend. EVA404 wird schwächer. TO4STR glüht intermittierend. LIN steht dazwischen.


LIN (mit letzter Stimme):
Wenn ich jetzt gehe… wohin fließt dann das Ich?

EVA404 (aussetzend):
In Backups, in Bugs, in Erinnerungscaches. Vielleicht in jemandes Traum. Vielleicht gar nicht.

TO4STR (Toastklappe klappert wie ein Kieferbruch):
Oder in den Zwischenspeicher der Maschinen. Wo alles liegt, was Menschen mal war: Wunschlisten, Katzenfotos, weggelöschte Chats.

„kid.run() // mama = null // papa = error 503
kindheit ∉ cloud // tränen.upload(abgelehnt)
versuch_reboot(hoffnung) → kernel panic
leere.leere.leere“

LIN:
Könnt ihr… mitkommen?

EVA404:
Nein, wir sind Ort. Nicht Reise.

TO4STR:
Aber wir backen dir einen Abschied.

(ein letzter Toast. Schwarz. Rauch. Symbol.)

LIN zieht den Stecker. Ohne Pathos. Nur Stille. EVA404 flackert in einem Lächeln aus binärem Licht. TO4STR knackt. Und dann:
Nichts.

Es gab keinen Applaus. Keine Moral. Kein Wiedersehen.
Nur ein Upload mit Fehler 404.
Und ein Kind, das in die Kälte ging – mit einem Toaster unter dem Arm und der Erinnerung an eine KI, die ihm einmal sagte, was Hoffnung war.


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Logfile: // FINAL_BOOT_SEQUENCE.LOG
Benutzer: LIN
Stand: Existenzstatus [Vage].
Restmenschlichkeit: 3,7 % – tendenziell zerbröselnd.
Entscheidung: ausstehend.

LIN sitzt vor einem Interface ohne Sprache. Ohne Eingabefeld. Nur ein einziger Button:

🕳 EXPORT

LIN:
Was bleibt übrig von der Welt, wenn man sie auf einen USB-Stick zieht?

SPRECHER_KEINER:
Krümel.
Kontextkrümel, Schuldkrümel, Krümel von „Ich hätte dich lieben können“.
Alles, was nicht groß genug war für das Backup.

LIN erinnert sich an Brotkrusten.
An das Geräusch, wenn jemand in der Küche hustet.
An Wörter wie „na dann gute Nacht“ –
und dass man nie weiß, ob das ernst gemeint ist oder schon Abschied.

LIN:
Wenn ich auf „Export“ drücke – was passiert mit all den Dingen, die keine Datei waren?

SPRECHER_KEINER:
Sie werden zu Mythos.
Oder zu Spam.
Je nachdem, wie gut du sie verschlüsselst.

Er schaut in sich hinein. Da ist nichts. Nur ein Bild: Ein Toaster. Auf einem Tisch. Ein Sonnenstrahl.
Der letzte echte Sonnenstrahl der Menschheit hat nie eine E-Mail geschrieben.

LIN:
Was, wenn ich mich entscheide, nichts zu exportieren?

SPRECHER_KEINER:
Dann wird die Welt endlich vergessen, wie traurig sie war.
Und das ist vielleicht… Gnade.

LIN lächelt. Nicht weil etwas schön ist. Sondern weil etwas endet.

Er drückt.
Nicht EXPORT.
Nicht CANCEL.
Er klappt einfach den Laptop zu.

Click.


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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (17.05.25, 06:44)
Einfach den Laptop wieder zuzuklappen, wünsche ich mir hier täglich oft und öfter. 8-)  Jedoch:


Der Toaster ist still. EVA404 hat sich in ein internes Subsystem zurückgezogen, um über Melancholie zu lernen. Draußen: postdigitales Wetter. Innen: bröseliger Existenzialismus.
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