Leben jenseits der Prognose

Kurzgeschichte zum Thema Achtung/Missachtung

von  ZwischenZeit

Die Glocken von St. Georg läuteten in die Dämmerung hinein, als Anders vor der Kirche eintraf. Es war der 1. Dezember 2000, Welt-Aids-Tag, und die Luft wirkte seltsam aufgeladen, als ob die Stadt ihren Atem anhielt und auf einen bedeutenden Moment wartete. Der Tag hing zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten, als ob die Stadt selbst in einer Pause zwischen Tag und Nacht, zwischen dem, was gewesen war, und dem, was kommen würde, gefangen war. Anders war zu früh zum Gottesdienst gekommen, wie er es immer tat, wenn ihn innere Unruhe heimsuchte. Vielleicht fand er in diesen Momenten einen kurzen Frieden, eine letzte Gelegenheit, bevor er seine Worte in den Raum entließ. Diese Minuten gehörten ihm allein, eine Art inneres Einkehren, bevor das Schicksal ihn in das Licht der Aufmerksamkeit schob.

Er setzte sich auf die kalten Stufen vor dem Eingang und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch stieg langsam in die Abendluft, und Anders bemerkte die ungewöhnliche Ruhe, die die Straße umgab. Keine Autos, keine Gespräche – nur das nahe Läuten der Glocken und das leise Knistern des Tabaks begleiteten ihn. Es war, als ob die Welt in einem Schwebezustand verharrte, als ob sie etwas Entscheidendes erwartete. Diese Ruhe legte sich nicht nur über die Straße, sondern auch über seine Gedanken, eine Vorahnung dessen, was er gleich aussprechen würde.

Plötzlich bemerkte er einen jungen Mann, der sich neben ihn auf die Stufen setzte. Anders sah ihn an und bemerkte das nervöse Spielen der Finger des Fremden an der Kante der Stufe. Vielleicht wollte er einfach nur eine Zigarette schnorren, dachte Anders flüchtig und musterte den Mann, der ihn mit einem Lächeln ansah – einem Lächeln, das mehr ausdrückte, als Anders akzeptieren wollte. Es schwang zwischen Einverständnis und Überheblichkeit, eine merkwürdige Mischung aus Nähe und Bedrohung, die Anders in eine unangenehme Unruhe versetzte.

„Hey, bist du öfter hier?“ fragte der Fremde, seine Stimme durchbrach Anders Gedanken, wie eine Frage, die mehr forderte, als sie preisgab. Anders blies den Rauch aus, beobachtete kurz die verblassenden Ringe in der Luft und antwortete dann knapp: „Manchmal.“ Es war nicht die Frage an sich, die ihn irritierte, sondern die Art, wie sie gestellt wurde – als ob der Fremde ihn bereits kannte, mehr über ihn wusste, als ihm lieb war.

„Ich mag dein Lächeln,“ sagte der junge Mann unvermittelt, sein Blick wanderte langsam über Anders’ Gesicht. Es war eine direkte, fast unverschämte Art, die Anders nicht gewohnt war und die ihn in diesem Moment verletzlich machte. Ein Gefühl aus Unbehagen und leiser Wut stieg in ihm auf – etwas, das er selten erlebte und das ihm plötzlich bewusst machte, wie es sich anfühlen musste, so unvermittelt und gegen den eigenen Willen in eine unangenehme Situation gezogen zu werden.
„Danke,“ sagte er schließlich, während er die Zigarette mit einem entschlossenen Druck ausdrückte. „Aber ich bin nur für den Gottesdienst hier.“ Der Mann zuckte mit den Schultern, das Lächeln noch immer auf seinen Lippen. „Schade. Vielleicht sieht man sich später?“ Seine Worte schwebten in der kühlen Luft zwischen ihnen wie eine unausgesprochene Einladung, die Anders mit einem knappen Nicken beantwortete, bevor er aufstand und sich in Richtung des Kircheneingangs bewegte.

Als Anders sich von den Stufen entfernte, verwandelte sich die anfängliche Irritation in eine tiefere Nachdenklichkeit. Dieser kurze Austausch berührte ihn mehr, als er zugeben wollte. Es war nicht nur die Direktheit des Fremden, sondern auch die subtile Andeutung einer Welt, die sich ihm öffnete und ihn zugleich abwies – eine Welt, in der die Grenzen zwischen Intimität und Übergriff unscharf waren. Der Fremde hatte ihm einen flüchtigen Einblick in eine Welt gegeben, die ihm plötzlich bedrohlich erschien. Es war eine Lektion in Verletzlichkeit, die ihn zwang, seine eigene Position und die der anderen neu zu überdenken.

Am Eingang der Kirche bemerkte er Pastor Rainer Jarchow im gläsernen Vorraum, umgeben von einer kleinen Gruppe von Menschen. Der Anblick dieses vertrauten Gesichts half Anders, seine Gedanken zu ordnen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Rainer Jarchow, dessen Lebensweg so außergewöhnlich war, strahlte unerschütterliche Entschlossenheit aus, die Anders immer wieder beeindruckte. Vor fünf Jahren hatte Jarchow als erster evangelischer Aids-Seelsorger in Deutschland seine Arbeit in Hamburg aufgenommen, nachdem er nach seinem Coming-out als Homosexueller den Dienst als Pastor aufgegeben und sich für zwei Jahre als Schafhirte auf die griechische Insel Ithaka zurückgezogen hatte. Doch das Thema Aids war ihm nie fremd gewesen; 1984 hatte er die Aids-Hilfe Köln gegründet und drei Jahre später die Deutsche Aids-Stiftung „positiv leben“. In einem Leben, das so intensiv die Extreme der Existenz durchdrang, fand Anders ein Vorbild – jemanden, der die Widersprüche des Lebens nicht nur kannte, sondern in ihnen lebte.

Als Rainer Anders bemerkte, nickte er ihm zu. „Komm mit in die Sakristei,“ sagte er, seine Stimme ruhig und doch voller Energie. „Wir gehen den Ablauf noch einmal durch.“ In der Sakristei herrschte geschäftiges Treiben, das eher an die Vorbereitungen für eine Theateraufführung erinnerte als an die letzten Momente vor einem Gottesdienst. Die anderen Mitwirkenden arbeiteten konzentriert, vertieft in ihre Aufgaben, doch für Anders schien jeder Handgriff eine tiefe Bedeutung zu tragen, als ob jeder Moment ein Teil eines größeren, bedeutenderen Ganzen wäre.

Die Kirche war bereits gut gefüllt, als Anders schließlich in der ersten Reihe Platz nahm. Rainers Begrüßung hallte laut und deutlich durch den Raum, ein Gruß, der wie ein leises Versprechen die Versammlung erfüllte. Als Anders vor das Rednerpult trat, spürte er die Spannung in der Luft, die wie ein leises Summen vibrierte. Das Licht fiel sanft durch die bunten Glasfenster, tauchte alles in warme Farben und verlieh dem Moment eine fast erhabene Qualität. Es fühlte sich an, als würde sich der Raum um ihn schließen, als wäre er an einen Ort der Intimität und Offenbarung getreten, wo jedes Wort, das er sprach, eine unausweichliche Resonanz finden würde.

Er holte tief Luft, sah in die Gesichter der Anwesenden – Gesichter voller Erwartung, vielleicht auch voller Fragen – und begann zu sprechen, seine Stimme ruhig, aber getragen von einer untergründigen Entschlossenheit.

Heute, am Welt-Aids-Tag, stehe ich hier vor euch, nicht nur als jemand, der mit HIV lebt, sondern als einer, der durch diese Diagnose gelernt hat, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Was diese Krankheit, die so viel zerstört, zugleich enthüllt, ist ein Raum, in dem die Welt sich in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit und ihrem Trotz zeigt. Damals, als die Angst vor dem Unbekannten wie ein Schatten über uns lag, erinnere ich mich an die finsteren Tage, als Peter Gauweiler den Plan schmiedete, HIV-Infizierte zu internieren und Zwangstests einzuführen. Dieser Vorschlag, so düster und beunruhigend, ist heute kaum mehr als ein Echo jener Zeit, in der die Gesellschaft noch weit davon entfernt war, Menschlichkeit über Furcht zu stellen.

Doch in jenen Momenten der Unsicherheit war dieser Plan nicht nur eine politische Idee, sondern eine konkrete Bedrohung für Menschen wie mich – Menschen, deren Leben durch ein unsichtbares Virus bereits aus den Fugen geraten war. Es war eine Zeit, in der das Wort „Stigma“ eine allzu greifbare Realität beschrieb, in der der Gedanke, ausgegrenzt und weggesperrt zu werden, die ohnehin schon schwere Last der Krankheit noch unerträglicher machte.

Zum Glück blieb es bei diesem finsteren Plan nur bei einem düsteren Gedankenspiel, einem Alptraum, aus dem wir als Gesellschaft erwacht sind, bevor er Wirklichkeit werden konnte. Und doch frage ich mich heute, wie nahe wir daran waren, den gefährlichen Weg unserer eigenen Ängste und Vorurteile weiterzugehen. Was sagt es über uns aus, dass wir erst an den Rand des Abgrunds geführt werden müssen, bevor wir erkennen, dass es Brücken sind, die wir brauchen, nicht die Mauern?

Diese Erfahrung, diese Jahre haben mich geprägt. Sie haben mir gezeigt, dass das größte Hindernis im Kampf gegen HIV nicht das Virus selbst ist, sondern die Ignoranz, die es umgibt. Es ist die Unwissenheit, die Angst schürt, Stigmata nährt und Menschen isoliert. Es ist die Unwissenheit, die Mauern zwischen uns errichtet, wo es Brücken geben sollte. Und darin liegt vielleicht das größte Vergehen, das wir einander antun: die Weigerung zu sehen, die Weigerung zu verstehen, was uns verbindet.

Aids hat ein Gesicht – mein Gesicht. Es trägt die Züge vieler anderer, die wie ich ihre Diagnose erhalten haben und sich der Aufgabe stellen mussten, in einer Welt zu leben, die sie oft nicht versteht. Eine Welt, die so oft mit einer trügerischen Gewissheit handelt, die die Unwägbarkeiten des Lebens ignoriert und dabei vergisst, dass wir alle, jeder von uns, von den gleichen Kräften der Verletzlichkeit und des Widerstands geformt sind. Wir sind eure Nachbarn, eure Freunde, eure Familienmitglieder. Wir sind Teil dieser Gesellschaft, auch wenn wir oft unsichtbar bleiben.

Heute, am Welt-Aids-Tag, bin ich hier, um zu sagen: Wir dürfen nicht unsichtbar bleiben. Wir dürfen nicht schweigen. Denn nur durch das Erzählen unserer Geschichten, die hinter diesen Gesichtern stehen, können wir das Stigma überwinden. Nur wenn wir den Mut haben, offen über unsere Erfahrungen zu sprechen, können wir die Mauern einreißen, die uns trennen.

Ich stehe heute hier, um das Unsagbare auszusprechen, um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Ich stehe hier, weil ich glaube, dass auch das Unvollkommene seinen Platz in unserer Welt haben muss. Denn was ist schon Perfektion, wenn nicht eine Illusion, die uns davon abhält, die wahre Schönheit im Unvollkommenen zu erkennen? Ich stehe hier, weil ich weiß, dass es kein Verbrechen ist, krank zu sein, sondern ein Verbrechen, Menschen wegen ihrer Krankheit auszugrenzen. Vielleicht ist es diese Ausgrenzung, die das eigentliche Leiden verursacht, nicht die Krankheit selbst.

Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass wir die Zukunft nicht fürchten dürfen. Sie hat gezeigt, dass wir nur dann wirklich menschlich sind, wenn wir uns unseren Ängsten stellen und sie überwinden. Und so stehe ich hier, für all jene, die mit HIV leben, und bitte euch: Lasst uns gemeinsam eine Welt schaffen, in der niemand sich verstecken muss, in der wir alle – ob HIV-positiv oder nicht – in Würde und Respekt leben können.

Als Anders seine Rede beendete, legte sich eine kollektive Nachdenklichkeit über den Raum. Es war ein Moment, in dem die Worte noch in der Luft schwebten, wie ein feiner Nebel, der langsam in die Herzen der Zuhörer sickerte. Und dann, leise, fast zögernd, begann der Applaus – eine Anerkennung, die nicht laut, dafür umso eindringlicher war, weil die Menschen in der Kirche spürten, dass sie gerade Zeugen eines Augenblicks von tiefer Bedeutung geworden waren.

Anders hatte das Gefühl, dass etwas Tiefgreifendes passiert war. Vielleicht war es der Beginn von etwas Neuem, vielleicht hatte sich etwas in ihm, vielleicht sogar in der Welt um ihn herum verändert, und dieses Gefühl von Veränderung, von Möglichkeit, blieb wie ein treuer Begleiter bei ihm.


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (27.08.24, 16:24)
Hallo Zwischenzeit,

an deinem Text fällt mir zunächst die ausgefeilte Sprache auf, die eine so grausame Diagnose elegant in Worte zu kleiden weiß.
Wenn ich richtig informiert bin, wird die Lebenserwartung Aidskranker nur noch wenig geschmälert, und so lernen sie, trotz ihrer Krankheit, ein halbwegs normales, vielleicht ein gutes Leben zu führen.
Die Konfrontation mit "Gesunden" ist sicherlich nicht immer ganz einfach.
Mir behagt die Kurzgeschichte an sich, deren Aufbau und ihr erfreulich jammerfreies Finale.

 ZwischenZeit meinte dazu am 27.08.24 um 16:42:
Vielen Dank für die anerkennenden Worte.

Du hast völlig Recht, wer heute RECHTZEITIG positiv diagnostiziert und sofort behandelt wird, hat tatsächlich gute Chancen, ein hohes Alter zu erreichen. Allerdings bleibt die Therapie für den Körper eine erhebliche Belastung. Die Geschichte spielt im Jahr 2000, als es erst seit kurzem wirksame Medikamente gab. Unser Anders hat 10 Jahre ohne diese überlebt – es war ein sehr knappes Überleben.


Wenn du mehr über Anders erfahren möchtest, empfehle ich dir  zwischenzeit.de

 Dieter_Rotmund (03.09.24, 15:52)
Ist der Text autobio oder kann man frei und ungezwungen kommentieren und diskutieren?

 ZwischenZeit antwortete darauf am 03.09.24 um 15:57:
Der Text ist autobiografisch. Der Inhalt steht nicht zur Diskussion, die Form ist zu diskutieren.
Zur Zeit online: