Lieber Unbekannter... - Brief an einen Fremden

Erzählung zum Thema Ich

von  Nora

Lieber Unbekannter,

Ich stehe auf der Brücke, breite meine Arme aus und fliege...

Ja, so stelle ich es mir vor. Jeden Tag und jede Nacht in meinen Träumen. Es gibt kein vor - es gibt kein zurück. Nur ein hin und her bestimmt meinen Weg.

Es ist lange her, dass ich gespürt habe, wie es ist zu leben. Viel zu lange habe ich mich von falschen Motiven leiten lassen... Ja, falsche Motive! Es war falsch zu glauben, dass in meinem Leben Platz für Liebe wäre. Es war falsch, zu hoffen, dass eines Tages ein Prinz auf seinem weißen Ross kommen würde um mich in sein Reich, sein Schloss, sein Paradies zu führen.

Die Gedanken zerreißen mich.

Nicht alles im Leben hat ein Happy End.
Es war schwer es zu erkennen.

Jetzt, wo ich am Abgrund stehe, wo ich bereit bin zu fliegen, geschieht es. Ich bin bereit. Doch ich bin machtlos. Meine Beine sind schwer und ich schaffe es nicht. Warum es so ist?! Warum es kam, wie es geschah ?! 

ER kam.
Ungewollt, auf einmal stand er da. Er sagte, er liebt mich. Aber er hat gelogen.

Er sagte, er wäre immer bei mir. Aber er hat gelogen.

Er versprach mir den Himmel auf Erden. Aber er hat gelogen.

ER , der große Held, in einer Welt voller Hass und Gefahren. Eine Welt, wie er sagt, voller Feigheit.

ICH, ich habe ihm geglaubt. Damals, als ich noch an die Liebe glaubte. War ich naiv zu glauben, dass es nicht nur ein Märchen war ?! Ja! Ich war naiv... Vielleicht bin ich es auch heute noch.

Heute, wo ich auf der Brücke meine Arme ausbereite und springen möchte, lähmt mich die Erinnerung.

Ich möchte fliegen. Frei sein.

Freiheit bedeutet alles, wenn man in einem Netz aus Lügen und Betrügen gefangen ist.

Lieber Unbekannter, glaube nicht alles, was man Dir erzählt. Es wird nur gelogen. Niemand spricht mehr die Wahrheit. Warum?! Ich weiß es nicht!

Manchmal, wenn ich mich schutzlos fühle, denke ich an diese Zeit. Es war lang - einsam - geheuchelt.

Er sagte, er liebt mich. Doch er hat gelogen.

Mit offenen Augen, blind , bin ich in mein Unglück gelaufen und nicht gewußt oder erkannt oder gar erkennen wollen, dass es falsch war.

So wie er kam, so ging er . Für immer, hat er gesagt... und zum ersten Mal die Wahrheit gesprochen.

Übrig geblieben bin ich. Doch von meinem ” ich ” bleibt nur der Punkt über dem I... mehr bin ich nicht.

Nun laufe ich Ziellos durch die Strassen. Suche nicht mehr nach einem ICH, nicht mehr nach einem I ohne Punkt.

Lieber Unbekannter,

wenn Du des Nachts am Himmel einen hellen Punkt leuchten siehst, der frei sich hin und her, vor und zurück bewegt, der zu strahlen scheint, ein Punkt, der vor Glück fast zerspringt, dann wirst Du wissen, dass ich es bin.

Ich gehe nun zur Brücke, breite meine Arme aus und fliege... so, wie ich es jeden Tag und jede Nacht in meinen Träumen vorgestellt habe.

Ich liebe mich. Und ich schwöre, ich habe nicht gelogen!

PUNKT!


Anmerkung von Nora:

Für einen Menschen, der fliegen wollte...

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(24.05.16)
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 Nora meinte dazu am 20.06.18:
Danke Dir Graeculus... wenn auch recht spät. Leider habe ich erst heute Deinen Kommentar gesehen. Dennoch - von Herzen - vielen lieben Dank!
Graeculus (69) antwortete darauf am 20.06.18:
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