Sommerasphalt

Text zum Thema Rausch

von  Zeder

Mit unfähigen Finger versuchst du nun zum dritten Mal dir eine Zigarette zu drehen, das Blättchen reißt erneut, du beachtest es nicht und greifst zur Packung, um ein Neues heraus zu ziehen. Mir zeigt sich das Bild von einem Balkon voll von zerrissenen Blättchen. Ich weiß nicht, ob du genug Packungen dabei hast, deshalb frage ich. Die Packung füllt sich immer wieder auf, sagst du, weil es eine Zauberpackung ist.
Wir kichern und sehen zum Himmel, der sich irgendwo im Nichts auflöst und sich nicht mehr neu bilden will. Er flimmert nun schwarzweiß wie Fernsehschnee. Ich frage ihn, warum. Er antwortet mir, das Programm sei ausgefallen. Das ist einleuchtend, deshalb höre ich auf mich darüber zu wundern. Ich betrachte dich und möchte, dass du mir etwas erzählst, denn dein Kopf ist verformt und deine Augen größer als gewöhnlich. Deine Backen wölben sich im Birnenformat unter deinen Haaren hervor. Ich kichere. Du rufst einem Jungen, der unter uns die Welt kreuzt, zu, dass er dir eine Zigarette hoch werfen soll, er guckt nach oben und geht dann schneller weiter Richtung Horizont. Ich schätze ihn auf ungefähr neun und werfe ihm ein Blättchen an den Kopf, doch es segelt nur zart wie Schnee durch das Nachmittagslicht und kommt nie auf der Erde an. Der Junge ist schon lange aus der Welt verschwunden.
Du sagst, dass du gerne sterben möchtest. Nickend sage ich: Ich weiß.
Und du beginnst zu erzählen. Damals als du am Meer warst, mit sechs oder sieben, da bist du nackt auf nassen Steinen hin und her gehüpft und hast gesummt und das Wasser schlug beständig seine Arme gegen die Steine und durchflutete sie und trug Algen und Muscheln und Ozeansand hin und her. Und du sprangst erneut ab, hin zu nächsten Stein, der die Form einer Lunge hatte, und bemerktest, dass du dabei bist zu fallen, hinein in die Arme, die fast warm waren und dich hinunterdrückten, und dann sahst du grünes Licht und spürtest Stille und wusstest, dass es nun so weit ist. Genau in diesem Moment möchtest du gestorben sein, sagst du. Mit dem Mund voll Meerwasser, weil man dann im nächsten Leben eine Meerjungfrau wird.
Die Szene wechselt, wir sind auf den Weg in deine Küche und begutachten die Einrichtung und versuchen zu beurteilen was überflüssig ist. Der Toaster, schlage ich vor. Du nickst und greifst danach, gehst hinüber zum Balkon und lässt ihn fallen. Ein dumpfer Aufprall, von einem Scheppern begleitet, erklingt. Im Zurückkommen greifst du zur Obstschale. Wenn ich eigentlich schon tot bin, sagst du, brauche ich auch kein Essen mehr. Ich nehme dir die Schale ab und werfe die Orangen und die Äpfel nach einander auf den Sommerasphalt - sie zerplatzen. Hinterher die orangene Plastikschale, sie dreht sich im Fall und springt in einigen Verenkungen die Straße auf und ab, weil sie nichts findet, wo sie hin gehört. Als ich mich umdrehe, kommst du gerade in die Küche zurück, die Arme, die doch eigentlich tot sind, beladen mit Büchern, und wir beginnen kichernd Hermann Hesse auf die kahle Straße zu werfen - die Buchrücken krümmen sich und schreien und wir lachen und zeigen mit unseren Fingern auf sie. Du reißt Seite um Seite aus, um sie dem Himmel entgegen zu werfen und rufst: Geschenke! Geschenke! Ich kichere ausgelassen und halte dann inne, denn ich sehe plötzlich, wie ein Ansatz von Flügeln aus deinem Rücken wächst, sie stechen schon nach hinten an die Hauswand und wollen sich ausbreiten und du schaust mich mit deinen zu großen Augen an, wir berühren die weißen Federn und ich möchte dein Gesicht streicheln, denn du weinst nun leise vor dich hin, doch der Platz reicht nicht mehr, du drängst mich zurück in die Küche und steigst dann auf dein Geländer, hüpfst und rufst zu irgendjemanden, nur nicht zu mir, dass du jetzt fliegen kannst und du siehst endlich wieder einmal glücklich aus. Mir kommt in den Sinn, dass dein Programm, wegen Störung, schon lange ausgefallen ist und ich renne zum Fenster, um dir nach zu schauen. Später dann Sirenen, keine Meerjungfrauen. Dein Rücken krümmt sich auf dem Sommerasphalt und ich bewerfe deinen Kopf mit Zauberblättchen, die wie Schnee hinabrieseln. Du hast doch den Winter so geliebt.


Anmerkung von Zeder:

natürlich für n.

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Kommentare zu diesem Text


 erdbeermund (13.05.08)
Mal ein etwas längerer Text. Gefällt mir.

LG

erdbeermund

 Zeder meinte dazu am 13.05.08:
jaa, ich neige die letzten tage zu längeren texten, bin selbst überrascht.
es freut mich, dass er dir gefällt! ich mag ihn auch. :)
T
Samjessa (28)
(14.05.08)
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 Zeder antwortete darauf am 15.05.08:
danke für die empfehlung!

für mich ist dieser text ganz äußerst intensiv. das schreiben war sehr eindringlich und sehr nachhallend. ich selbst bin mit diesem text sehr zufrieden. er erzeugt in mir staunen und nachdenken und melancholie und auch freude und kichern. ich habe das gefühl mich in den beiden mädchen (für mich sind beide weiblich) ganz auszuleben, besonders als sie anfangen alles auf die straße zu werfen.
das ende... ja ich neige in meinen texten, vor allem der letzten zeit, irgendwie sehr zu zerstörung und zerbrechen von irgendetwas :) bei diesem text ist es gewollt. das floss dann so in meine gedanken mit ein. bei den anderen texten bin ich mir selbst nicht sicher, ob es sich wirklich um selbstmord drehen soll oder nicht. bei jedem lesen geht es für mich anders aus. das ist interpretationssache, ich hoffe das geht anderen, die meine texte lesen, auch so. das wäre schön.
ja, bei sommerasphalt ist es gewollt. aber ich finde den gedanken mit den flügeln so schön. es ist ja kein suizid im herkömmlichen sinne, es hat ja etwas erleuchtendes, etwas, dass man mit menschenaugen vielleicht garnicht so erfassen kann. es hat etwas mit weitergehen zu tun für mich. und die beiden erfahren das ganze ja nun auch noch berauscht.
ja. ich bin wirklich sehr zufrieden. habe mich auch ein wenig zur einer klareren sprache bemüht, weil ich glaube, das viele meiner texte in ihren bruchstücken für viele nicht sehr verständlich sind. das ist jetzt so ein mittelding. aber trotzdem sehr bildlich. :)

liebste grüße dir!
Samjessa (28) schrieb daraufhin am 16.05.08:
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Zementente (19)
(15.05.08)
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Selene (29)
(15.05.08)
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 Zeder äußerte darauf am 15.05.08:
wie schön, so wirkt es auch auf mich. danke dir, selene!
Tempergus (43)
(17.05.08)
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 Zeder ergänzte dazu am 18.05.08:
hat dir nicht gefallen? wie schade.. :)
danke dir!
Caterina (46)
(18.05.08)
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 Zeder meinte dazu am 18.05.08:
ja, das ist auch die stelle, die mir am liebsten ist, obwohl mir hier alles lieb ist.
interessant wie du den anfang auffasst - ich sehe für mich das thema kindheit hier nicht im mittelpunkt. kürzen oder gar streichen könnte ich hier aber nichts... ich finde den anfang, zumindest sprachlich, auch fast besser als das ende. er bereitet eben vor und lässt uns die charaktäre und ihren rausch kennenlernen. der rausch dient hier dazu auf den innersten seelengrund vordringen zu können. das ist auch die stelle des sterben wollens und damals am meer nicht gestorben zu sein. eine tiefe innere traurigkeit eines der mädchen. es ist so schön, wie nah sich die beiden dabei kommen und wie fern sie sich trotz allem sind. danke dir, caterina. und liebstes zurück (aber ich behalte meinen teil ;))
Balu (57)
(18.05.08)
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 Zeder meinte dazu am 18.05.08:
sehr ehrlichen und tiefen dank dafür, gerade auch für jene art des verstehens. :)
(Antwort korrigiert am 18.05.2008)

 thomas (25.05.08)
wundersamer text. voller ideen, schöner wörter und komischer begebenheiten. hab ihn anderthalbmal gelesen*-und das will was heißen!
viele grüße vom beeindrukten thomas
wupperzeit (58)
(06.06.08)
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mbkreativ (61)
(15.06.08)
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The_black_Death (31)
(15.06.08)
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neinneigung (33) meinte dazu am 15.06.08:
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 Zeder meinte dazu am 15.06.08:
wie schön, dass euch gute texte gefallen. mir gefallen vorzugsweise auch gute texte, aber das ist mal so, mal so - je nach laune, würde ich sagen. mir gefallen auch andere gute sachen. gute kommentare zum beispiel. aber das ist mal so, mal so. ist ja auch ansichtssache, sage ich da immer und dann renne ich schnell weg.
und, danke, black_death.
(Antwort korrigiert am 15.06.2008)
PaulVicious (26)
(25.06.08)
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 Zeder meinte dazu am 25.06.08:
oh :) dankeschön!
Data-LAB (37)
(26.06.08)
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lake26 (46)
(24.07.08)
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shooter (63)
(03.08.08)
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thammü (22)
(06.08.08)
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damnedniceday (51)
(17.09.08)
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FabianPhilipMüller (21)
(06.01.09)
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 Zeder meinte dazu am 06.01.09:
lieber malte - es ist wunderbar für mich zu lesen, was beim lesen des textes in dir vorgegangen ist!

ob es sich in dem sinne um suizid dreht? ich weiß es nicht oder eigentlich: sie ist sich schon bewusst, dass sie sterben wird - dem mädchen wachsen flügel zum fliegen. und sie fliegt, aber eben nicht in den himmel. trotzdem fliegt sie, und sie fliegt in den tod hinein. aber das deute ich für mich hier als etwas spirituelles. keine verzweiflungstat. das letzte ablegen, nachdem überflüssige dinge wie der toaster auf der straße landen, folgt nun der körper. im grunde ein zugespitztes sich loslösen von materiellen dingen.
ja, diese stelle ist auch für mich sehr hoffnungsvoll. denn im grunde hat sich für mich der wunsch des mädchen ja erfüllt. nur die freundin, die zurückbleibt, hat einen melancholischen nachgeschmack, weil sie so apathisch dort oben auf jenem balkon sitzt. sie ist ihr bis zu jenem punkt ein wichtiger begleiter gewesen, sie kann aber nicht mehr mit. aber sie erkennt die notwendigkeit des todes ihrer freundin.

"Mir ist plötzlich klar geworden, wie viel wir im Leben eigentlich hinnehmen, ohne wirklich darüber nachzudenken."
dass ich das auslösen konnte freut mich.
und
"Was ich hier lese, scheint mir wie eine Absage an das Künstliche und Unhinterfragte unserer Welt. Auch an das, was man aus eigener Kraft nicht ändern zu können glaubt."
ja. genau.

vielen dank!
theresa
(Antwort korrigiert am 06.01.2009)
paulinewilhelm (35)
(09.01.09)
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Melancholic. (31) meinte dazu am 20.01.09:
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 Janoschkus (02.03.09)
das ist mal ein wirklich guter text, der dich an der hand nimmt und nicht einfach so wieder los lässt. gefällt mir sehr.
gruß janosch

 poena (09.05.09)
erst jetzt gefunden.
erst jetzt lieblingstext geworden.
tolle stimmung. schöne sprache.
bilder. wow.
Tierra (28)
(18.07.09)
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