savoir-vivre

Kurzprosa

von  beneelim

Man lebt dahin. Und indes man dies tut, bedenkt man die Reißbrettwelt rundum mit Blicken, verstohlenen, die man als Wagnis empfindet, und man meint, man schliefe dadurch ruhiger. Denn es lässt sich erkennen: Dahinleben ist die Tugend der Kultivierten, der Dreiviertelmenschen, und zu denen sollte man wohl dazu gehören.

Der Lust wird hinterher geschrieben, dem Gesagten ein Beliebiges beigemessen, die Waagen betrogen. Lust, das spricht sich "Lußt", und nach dem Selbstlaut gurgelt das innere Viertel wie die wildeste Schweinerei in der Konsonantenwanne. Lu ß T. Verheißungsvoll. Klingt nach mehr. Verjüngt, belebt. Funktioniert ganz nebenher, denn drei Viertel sind nun mal drei Viertel. Und die Wampen, die sich unter Sixpacks, Lip Gloss und q10-Präparat balsamierten Cosmopolitan Nacheifereien verbergen, die weltbreite Adipositas des Einkäufers, bringt alles Unerwünschte arg in Bedrängnis. Man füllt es in lußtförmige Augenscheinlichkeiten und schon findet es Platz in den Regalen. Haben wir Lußt. Heute? Der allgegenwärtige Tag streicht vorüber und schleppt sich selbst wieder hoch über die Simulation eines Firmaments. Den großen Wagen schaltet man ein, wenn sich eine Reisegruppe von mindestens zwölf Personen findet. Der Dahinlebenspartner ist verzückt und drückt einem einen flüchtigen Kuss an den Halsansatz. Lußtvoll. Einem niederländischen Pärchen, das man aus einem Swingerclub irgendwo nahe der tschechischen Grenze zu kennen meint, hat die Krebssuppe vom verschwenderischen Fisherman’s Night Buffet nicht gut getan. Der Schweißgeruch von unbehandelter Körperbehaarung scheint nicht abwaschbar zu sein und man ermutigt sich, den kommenden Dahinlebenspartner nicht mehr aus dem Diskont zu besorgen. Und gleich heute wird man etwas Neues beginnen.

Vor lauter Lußt ist das Meer, das im Frühjahr zu kühl ist und dessen Strand man von diesem Hotel aus kaum genießen kann (zu eng, zu verbaut, zu viele plärrende Animateure), beinahe totgeschnorchelt und ein angeheuerter Taucher hält eine Seegurke an das Glas der Schauluken eines dottergelben Ausflugsbootes. Die Bonner Touristin, deren verschwitzte Haut unter den Achseln rotgefärbt ist, flüstert zu ihrer Begleitung: Kann man das essen?

Aber es kamen kaum Beschwerden. Man lebt dahin, wie es wohl nicht mehr geschehen ist, seit die Zeit abgeschafft wurde. Man hat, wenn man die richtige Zusatzversicherung gewählt hat, aufgehört zu riechen und Lärm zu machen und man macht es so, wie es alle tun, die man kennt, wenn auch auf eine ganz eigene Weise. Und nur manchmal muss man sich ausführlicher erklären, und es gibt eigene Lehrgänge dafür und 22 anerkannte psychotherapeutische Schulen.  Jeder ist einmalig. Dreiviertelmalig. Wenn er nur Lußt dazu hat.

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Kommentare zu diesem Text

minze (21)
(07.09.08)
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