Ohne Joel

Kurzprosa

von  beneelim

Die Kordel schlägt leise gegen den Fensterrahmen und sie schwingt im Takt des Regens, der draußen den Abend frischer macht, und den keiner erwarten wollte im Januar. Worte lassen sich erahnen, noch ehe ein Mund geöffnet oder das Schrillen des Telefons von einer entschlossenen Hand gebrochen wird.

Der heisere Kantor schnäuzt sich verlegen ins Stofftaschentuch, die Schwestern senken ihre Stirnen, und nur die Mutter will noch einen Moment sich an der Täuschung berauschen. Ihr Rücken zeigt zu den Söhnen, die drängen sich wie pickelige Knaben in Ecken und gegen das verchromte Bett mit dem Galgen und keiner spricht. Aufstrebender Künstler und erfolgreicher Direktor einer Kleinkunstbühne waren sie eben noch gewesen, Streithähne in neidvollen Erinnerungen, gefeiert und geschieden, depressiv, narzisstisch – und nun sind die Jahre von ihnen abgeblättert, da sie verlieren sollen, was noch nicht geschätzt und gewogen worden ist. Sie wissen nicht recht, was sie einfordern sollten, doch war es nicht so, dass er sie selten nur in den Arm genommen hat?

Draußen schleicht das flache Licht über Flure und schlecht verfugte Fliesen, sie hassen es, hassen es alle drei, mehr noch als den Geruch von Sterilium, Eisen und Nachgeburt, den der knarrende Ventilator herbeiträgt. Der zehnte Rosenkranz ist gemurmelt, das zehnte Stofftaschentuch mit den wenigen Körperflüssigkeiten befüllt, deren Austritt keiner moralischen Prüfung bedarf, und dann hat die Mutter die Finger um den eierschalenfarbenen Kunststoff des Telefonhörers gelegt – Gin. Full House. Man mag denken, sie lächelt, sie umhaucht ihre Lippen mit einer Erhabenheit von Erfahrung und Leiderprobtheit und sie will sich erinnern: 1943, nächtliche Flucht, Granatendonner, Blitze von zerschellendem Fleisch und Mauerwerk, blind steigt sie und steigen einige andere durch Rauch und in eine Zeit, die sich wie keine zuvor ungewiss nennen darf. Wohl zwei Wochen zuvor hat sie ihr erstes Kind empfangen und an der fiebrigen Hand, die sie ins Sichtbare führen will, fühlt sie sich müde und hoffnungslos und da gibt es einen, der sich ihres Schlafes bemächtigt seit einiger Zeit. Ringsum dröhnt sein Paukenschlag, sie laufen, fort, fort, und wie weit kann es gehen im totalen Krieg? Wohin den Schritt setzen zwischen den Feuern?

Da lockert sich der Griff und das Telefon schellt weiterhin seine unerhörte Botschaft gegen Türen und Wände, und der Kantor hat sich auf seinen Stuhl gesetzt. Die Mutter schüttelt den Kopf, beutelt die Schultern, als sich Geschichten und Bilder vermengen und sie fasst sich an die stark berougten Wangen, greift an die teure Frisur. Was für ein unsinniger Gedanke, aber ist sie denn mehr, heute, als sie damals war? Können sie und ihre Söhne, diese feigen Emporkömmlinge, je mehr sein als eine offene Rechnung, die der Vertriebene an Wind und Wüste stellt?
Nun senkt sich etwas Nächtliches auf ihr Gesicht und der Kantor macht eine kurze, schneidende Geste und die Schwestern murmeln Amen und verlassen das Zimmer. Die Söhne haben sich bei den Händen gefasst, die mit Ringen geschmückt sind und hellbefleckter Haut, und dann haben sie einander doch wieder losgelassen. Immer noch sehen sie den Rücken der Mutter. Er zittert. Von der verbrauchten Luft gebrochen, klingen seltsam alle Worte, schwingt eines gegen das andere und sie pendeln die Tiefe des Abschieds aus; pendeln, schwingen, und die Kordel kommt langsam zur Ruhe. Welcher von beiden ist es, der sich denkt: Den Toten ein Vater, der stirbt.

Joel, es hebt sich einer von dieser Welt, Joel, und das heißt: Gott will.

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