Dann drückt er ab

Kurzgeschichte zum Thema Tod

von  Seelensprache

Ich schaue ihn an. Er ist still. Seine Blicke bröckeln den trostlosen Beton von den Wänden. Er tritt auf die Scherbe eines zerbrochenen Fensters und zieht sie über den Boden. Es ist ein unangenehmes Geräusch.
"Wir werden alle sterben".
Ich sage nichts. Ich warte.
Wir sitzen. Es ist wie so oft, doch diesmal wird es anders sein. Der Moment ist gewöhnlich, wie auf den Bus zu warten, doch alles wird besonders, wenn man es ein letztes mal tut. Ich nehme die Kippe aus seiner Hand und ziehe daran.
Ein kalter Wind stürmt durch das kaputte Fenster. Schwere Vorhänge drücken sich dagegen. Von ihrem satten Rot ist nur noch eine verstaubte Erinnerung übrig geblieben.
Ich bin nervös. Ich habe meine Kapuze tief in das Gesicht gezogen.
"Hast du Angst?".
"Ich weiß nicht... ja.... ich glaube schon", antworte ich.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nichts ist von Wert. Alles von Bedeutung ist gefallen und lediglich die Pole des Lebens übrig geblieben. 
Ich bewundere ihn. 
"Es ist eine Illusion zu glauben, man könne sich ändern."
Ich höre zu, ohne darauf zu antworten. Ich möchte seinen Gedanken keine Richtung geben.
"Wir sind Kinder geblieben; wütende Kinder, traurige Kinder. Bücher haben uns das Träumen gelehrt und das Hoffen und wir haben unsere Sehnsucht an sie verkauft und sind verraten und nackt zurückgeblieben. Nichts änderte sich."
Ich schlucke und ich spüre die rostigen Nägel meinen Hals blutig reißen. Ich möchte ihm widersprechen. Ich möchte ihm sagen, dass es an uns ist, die Dinge zu verändern. Doch ich glaube selbst nicht daran.
"Wir stramplen unser ganzes Leben lang vergebens auf der Suche nach Liebe. Am Ende werden viele von uns sagen müssen; niemand hat mich jemals um meinetwillen geliebt. Dies ist der größte Schmerz."
Ich kann nicht darüber nachdenken. Ich bin wie ein Segel, das voller Risse ist und er, wie der Wind, der es spannt und wölbt und seine Worte werden zum Sturm der peitsch und schlägt und ich kämpfe nicht zu ertrinken.
Er lächelt und ich weiß, dass Erinnerungen in ihm liegen. Sie sind warm, denn wären sie kalt, so hätten sie ihm das Gesicht hart und ohne Ausdruck gelassen.
Ich frage mich, ob es wahr ist, dass das Leben nochmal an einem vorbeizieht, in den letzten Sekunden. 
"Ich werde nicht warten. Das bin ich mir schuldig. Verstehst du?"
Ich verstehe ihn. Doch ich möchte ihn nicht verstehen. Ich möchte sagen: "Nein. Da gibt es nichts zu verstehen. Du verstehst nicht. Du verstehst nicht! Hörst du?"
Musik krächzt aus den Boxen. David beugt sich vor um sie lauter zu drehen und die kleinen Membranen quälen sich, seinem Wunsch gerecht zu werden.
Ich erinnere seine Worte. "Niemand liebt mich", hatte er gesagt. Ich sah keine Traurigkeit an ihnen hinabhängen. Es war etwas anderes. Es war die absolute Akzeptanz einer Tatsache. Es war die vollständige Verneinung jeden Zweifels.
Nach einer Weile sagt er: "Es ist Zeit"
Es ist Zeit. Es ist Zeit. Es ist Zeit. 
Er steht auf und kniet sich vor mich. Seine Beine fallen hart auf den rissigen Beton. Es klingt dumpf. Ich schaue zu Boden. Er packt mein Gesicht zwischen beide Hände und zieht es dich an seines heran. "Ich habe keine Wahl", sagt er. Seine Augen sind starr und ich kann mich nicht von ihnen lösen. Ich spüre seinen warmen Atem und rieche den Kippenduft und das Bier darin liegen.
Ich möchte vieles sagen. Ich möchte sagen: "Tu es nicht!" Ich möchte sagen: "Bleibe doch!" Ich möchte sagen: "Warum? Warum nur?". Ich schweige. Es gibt nichts zu sagen.
Er hebt die Waffe.
Ich weine. Ich sehe Ende. Ich will nicht gehen lassen.
"Bleibe bei mir", sagt er. "Ich möchte nicht einsam gehen"
Er hebt die Waffe und legt sie an seine Schläfe.
Er schaut mich an und ich sehe in ihm das Kind das traurig ist und müde.
Er spricht: "Ich habe Angst"
Er reicht seine Hand und ich halte sie ihm. Ich streichle darüber. Ich fasse sie mit beiden Händen und ich mag ihm Wärme schenken.
Er lächelt. "Danke"
Dann drückt er ab.

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Kommentare zu diesem Text

LeMensonge (42)
(04.10.08)
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 Seelensprache meinte dazu am 04.10.08:
Hi LeMesonge,
es ist für mich wundervoll, dass du den Text als gefühlvoll empfandest. Das ist das einzige Ziel für mich beim Schreiben. Ich möchte Menschen berühren. Danke.
Emerelle (24)
(04.01.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Seelensprache antwortete darauf am 04.01.13:
Vielen Dank Emerelle!
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