Kim

Erzählung zum Thema Missbrauch

von  KayGanahl

1.
Die Ziehung der Lottozahlen war vorbei, Großvater Larry machte sich daran, seine Kavallerie und auch seine Infanterie,  die auf dem Teppichboden gefechtsmäßig angeordnet waren, vorsichtig zu umgehen, - er schlich um sie herum, während er keinen Mucks von sich gab. Darin war er geübt. Oft hatte er seine Schlachten zu schlagen, denn er war der General einer Zinnsoldaten-Armee. Frau T. - T. verabschiedete sich gerade höflich von ihren Fernseh-Zuschauern, und wir alle hingen einigermaßen samstagsmüde in unseren kleinen Welten. Wir zergriffen die dünnen weichen, mit Leberwurst beschmierten Brötchen, die außerdem mit Hack belegt waren. Es schmeckte. Der Großvater jubelte, als eine Gruppe von Feindsoldaten vor seinen Augen von denen, die er kommandierte, erfolgreich bekämpft wurde.  Im TV würde bald irgendein dämlicher Spielfilm anlaufen, den anzuschauen wir von Mutter angehalten wurden, weil sie viel von dieser Art der Unterhaltung hielt. Und wir seien ja auch, sagte sie gern, „alt genug“ für derlei Unterhaltung „vom Feinsten“. Letzteres war anzuzweifeln. Großvater Larry zweifelte es sehr stark an. Ja, also … mein Großvater kannte sich in unserer Familie bestens aus, seit ein paar Jahren war er das Familienoberhaupt, weil mein Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das Gesamtaufkommen des Verkehrs auf den Straßen unserer Stadt hatte sich binnen weniger Jahre extrem gesteigert.  Die Behörden konnten des Verkehrs kaum Herr werden – das Gesamtaufkommen in unserem kleinen Staat war groß und unbeherrscht. Es gab da jedenfalls einige Probleme von langfristiger Tragweite.
Wissen Sie, wenn wir hinsichtlich des Todes unseres Erzeugers in uns gingen und sich Selbstmitleid mit Trauer vermischte, dann fanden wir, eifrig nach Schuldigen suchend, nicht wenige Versager unter den Politikern, die uns das Leben eher immer schwerer als leichter zu machen drohten. Das war für uns Grund zu Empörung und Ablehnung, sogar zu Hass. Aber Gefühle, die sich durch übermäßige leidenschaftliche Kritik und auch durch Hasstiraden Ausdruck verschafften, konnten leicht zu Destruktion führen. Das musste nicht sein!
Tja, hätten wir Großvater Larry nicht gehabt! Er hielt unsere Familie erfolgreich zusammen und unterdrückte mehr oder weniger erfolgreich unseren Hass, unser Selbstmitleid sowie alle unsere Bemühungen, in Staat und Gesellschaft nichts darstellen zu wollen. Mutter Augusta war in seinen Augen eine miserable Erzieherin, weshalb er nicht umhin konnte, Einfluss und Druck auf sie auszuüben,  um der Erziehungsarbeit die Richtung vorzugeben. Er schämte sich für sie, sie als seine Tochter war für ihn eine unfähige Person, welche uns drei Kinder nicht alleine erziehen konnte. Die zuständige Behörde und das Gericht waren nach dem Unfalltod unseres Vaters binnen weniger Wochen zu dem Schluss gekommen, dass er der rechtliche Betreuer unserer Mutter sein sollte. Keine Frage, dass sie damit für uns zwar noch die Mutter war, aber eben nicht mehr die mächtige Erzieherin und Hausfrau, der Haushalts- und Familienvorstand, der das Sagen hatte. Sie war entmachtet.
Philipps und meine Zinnsoldaten waren heute gegenüber denen des Großvaters auf dem Boden angeordnet, genauer gesagt: wir kommandierten die feindliche Armee. Als Großvater seine Infanterie, die Kavallerie – und auch die Spielzeugautos Philipps mit seinen feuchten, zittrigen Händen berührte, die fern der Armeen standen, fuhren und verunfallten, da wurde ich, Martin Klotzer, sehr gespannt aufmerksam. Von jetzt an hatte ich meinen Großvater an diesem Abend voll im Blick! Es gab keine Autorennen, und Indianer und Cowboys kämpften heute nicht. Die Südstaatler und die Nordstaatler  des 19. Jahrhunderts befanden sich mitten in historisch verbürgten US-Bürgerkriegsgefechten direkt vor dem flimmernden TV. Ich starrte Großvater Larry mit großen Augen an, doch dieser fuhr zu unserem Erstaunen ganz locker damit fort, unsere Armee, die der Südstaaten, zu manipulieren. Natürlich wurden wir deswegen wütend. Mein Bruder Philipp schubste meinen Großvater, so dass er mit einem Schrei zur Seite kippte. Mutter kam herbei und schrie sofort Großvater an. Sie half ihm aber dann, so gut sie es zu tun vermochte. Für uns war die Hauptsache, dass unsere Armee der Südstaaten ohne Manipulationen weiterhin erfolgreich auf dem Schlachtfeld agieren konnte.
Mittlerweile hatte sich Großvater zur Wohnzimmertür mit der verrosteten Klinke begeben und überblickte die ganze Wohnzimmer-Szene. Für sein Alter war er durchaus nicht schrullig – und auf Grund seines hellen Verstandes, seiner charakterlichen Qualitäten und seiner verschiedensten Fähigkeiten war er auch jetzt imstande, sich umsichtig zu verhalten. Mutter lachte ihn prustend aus, was völlig unsinnig war. Unsere Schwester Kim, 12 Jahre alt, hockte auf der Couch und glotzte auf den TV-Bildschirm. Großvater fixierte sie jetzt mit einem kritischen Blick, schien sie herauspicken zu wollen, äußerte sich aber nicht, vielmehr war er nunmehr damit beschäftigt, Mutter mit ein, zwei Armbewegungen abzuwehren, die ihre Aggressivität nicht kontrollieren konnte.  - Es war sehr warm im Wohnzimmer. Ich trug einen blau gestreiften Pyjama und verhielt mich ruhig. Philipp rutschte nun in der Unterhose auf dem Teppichboden zwischen Zinnsoldaten und Autos hin und her. Schwester Kim, die in einem roten Schlafkleidchen dasaß und an ihren Ohrläppchen spielte, kicherte und langte nach einem weiteren Brötchen mit Hack. Auf dem Wohnzimmertisch stand eine Platte voll mit diesen Brötchen-Hälften. Ich beobachtete das alles aus einer gewissen Distanz heraus, inzwischen auf einem Sessel sitzend. In mir sah ich das heimliche Oberhaupt der Familie, das hier eigentlich das Sagen haben müsste. Ich war 16 Jahre alt. Philipp 14, Kim, wie gesagt, 12 – und Großvater hatte die 60 Jahre schon erreicht, was allerdings im Vergleich zu vielen Mitbürgern im Land keinesfalls ein biblisches Alter war.
Er hatte auf einmal die Wohnzimmertür geöffnet, war heraus, und dann schoss Mutter zu ihrer Tochter Kim, um sie in die Arme zu schließen. Mutter war mit ihren 40 Lebensjahren noch ein Fanal der weiblichen Attraktivität, aber von ihrer Psyche her wusste sie nun einmal nicht zu überzeugen!
Bruder Philipp hing jetzt gelassen zwischen seinen Autos und spielte. Ich richtete mich vom Sessel auf und schaltete mit Entschlossenheit, ohne einen zu fragen, die Glotze aus. Zusammen mit Kim, die sich Mutter entwand, ging ich zu Philipp herüber, um auf dem Boden mit ihm zusammen zu spielen.  Er sagte nichts. Ich sagte nichts. Keiner sagte irgend etwas, das wiederzugeben erforderlich wäre. Philipp war auch heute voller Spielfreude, - das war eine Spielfreude, die ihn öfter den Rest der Welt ignorieren ließ, anders gesagt: er war kaum abzulenken. Seine Konzentration auf die Dinge und das Verhalten, die er haben wollte, war enorm. Er ließ sich von uns nie beeinflussen, ich meine, dass dies für ihn von Vorteil war. Er war für mich der bestmögliche Bruder. Mit Stolz verfuhr ich mit meinen Geschwistern mehr oder weniger in der Manier des Ältesten. Ich muss sagen, dass sie mich offensichtlich anerkannten: ich war in ihren Augen sicherlich die dritte Autorität in der Familie (wenn von Mutter als einer Autorität überhaupt noch gesprochen werden konnte).

2. 
Großvater Larry sollte nicht mehr erleben, dass Frau T. - T. aus dem TV ein Comeback feiern würde, nachdem sie als Medienfrau monatelang in der Versenkung verschwunden war, wie die werten TV-Zuschauer alldieweil glaubten. Sie sollte endlich eine Rolle in einer Vorabendserie spielen, die Massen der Zuschauer bald an sich binden, um die Serie für die Unternehmen als Werbeträger interessant zu machen. Und dieses Comeback wünschte sich mein Großvater Larry für die von ihm bewunderte T. – T. durchaus! Aber er war nach dem, was ich im ersten Kapitel erzählt habe, sehr bald wie vom Erdboden verschluckt. Sein Verschwinden war uns allen ein unlösbares Rätsel! Einiges ging uns durch den Kopf, so unter anderem auch etwas ganz Übles: Wollte er mit meiner Schwester Kim ein Liebesverhältnis anfangen? In der Tat war sie vom Alter her noch weit von der Volljährigkeit entfernt, und so durfte sie auf keinen Fall in irgendeiner Weise auf ihren Großvater eingehen (und umgekehrt, natürlich). Sicher, dass wir dies befürchteten, hatte den Grund, dass er ihr schon immer sehr zugetan war. Seine manchmal allzu offen gezeigte Zuneigung für die kleine Kim hatte sich als ein Problem  von Dauer zwischen Mutter und ihm  erwiesen – sie war Grund für eine dauerhaft vergiftete Beziehung. Stets lag ein Streit zwischen ihnen in der Luft. Es zeigte uns immer öfter, dass ihr – dadurch auch das der Kinder - familiäres Miteinander zutiefst gestört war.  Als der rechtliche Betreuer meiner Mutter war mein Großvater in ein System von Rechten und Pflichten eingebunden, so dass er Mutter und die ganze Familie ständig zu betreuen, sprich: auch zu kontrollieren und zu überwachen hatte. Er hatte eine Machtposition, die Mutter  ihm streitig zu machen immer wieder bestrebt war,  nicht nur wegen Tochter Kim.
Wie mir mein Onkel Bernie (ein schlanker, gut aussehender Mittdreißiger, der immer ganz wach durchs Leben schritt; Hilfsarbeiter in einer Teppich-Herstellung), der Bruder meines verstorbenen Vaters, mitgeteilt hat, war gemäß der Beobachtungen von Bekannten meines Onkels Großvater Larry an einem sonnigen Samstagnachmittag mit meiner Schwester Kim, die sehr gelassen ausgesehen haben soll, in eines der vorwiegend von türkischen Gastarbeitern bewohnten Mietshäuser im Stadtteil Hüderssdorff gegangen, wo bekanntermaßen immer mal wieder Festivitäten stattfanden, die besonders die deutsche Nachbarschaft aufstörten und zu Beschwerden veranlassten, die auf weitgehendes Unverständnis auf Seiten der Gastarbeiter und ihrer Familien stießen.  - Was Großvater Larry an diesem Samstag mit Kim dort konkret tun wollte, war meinem Onkel und allen anderen nicht bekannt, aber es war natürlich im Zusammenhang des Verschwindens meines Großvaters mehr als erwähnenswert! Kim war schließlich auch verschwunden – was denn auch das mit Abstand Schlimmste in diesen Tagen war! Wo war Kim? War sie beim Großvater?
Großvater Larry war ein bekannter Freund der Türken im Stadtteil. Diese beharrten auf ihren Traditionen. Und die verschiedenen Beschwerdeführer der Deutschen blieben immer wieder recht hartnäckig bei der Sache. Mein Großvater war, wie mir mein Onkel ebenfalls mitgeteilt hat, bei den Türken dort beliebt – ein gern gesehener Gast bei Trinkgelagen und traditionellen Festen. Onkel Bernie sagte mir außerdem - der mich zuvor noch kurz lobte, ich sei ein aufmerksamer und intelligenter Knabe - , dass sich Großvater mit einigen türkischen Arbeitern solidarisiert hatte, um Partei gegen einige (vermutlich deutsche) Extremisten aus dem rechten politischen Lager zu nehmen, die die türkischen Bewohner des Stadtteils Hüderssdorff zu „vertreiben“ suchten ( eine gesellschaftliche Zeittendenz, die zu registrieren wir uns eher schämen)  – so nahm man in diesen politisch engagierten Kreisen jedenfalls an. Es durfte nicht zu einer Art Pogrom gegen Türken kommen. Mein Onkel war selbstverständlich für die türkischen Mitbürger positiv eingenommen, was ihm keinesfalls übel zu nehmen ist, dennoch fand er meines Großvaters politisches Engagement übertrieben, weshalb er ihm früher gelegentlich Vorhaltungen gemacht hatte. Unsere kleine Wohnung war insofern gelegentlich Ort der politischen Debatte, was uns kleinen Erdlingen missfiel, denn viel verstanden wir nicht von der Politik und den türkischen Mitbürgern. Und ihren Rechten.
Also: der Grund für das Mitschleppen Kims in dieses Haus war Onkel Bernie völlig unbekannt, es konnte nur einen völlig unbegreiflichen Grund geben, der inakzeptabel war. Kim hatte kein Interesse an Häusern, an Türken, an Rechten, an Politik, auch kein großes Interesse an Großvater Larry. Also …? Dann kam mir eine Idee, die äußerst bedenklich war: ging es wirklich und tatsächlich um etwas Sexuelles? Diesbezüglich fragte ich Onkel Bernie, der sofort zusammenzuckte. Sagte dann: „Kann sein.“ Und ich wollte im Grunde ja gar nichts mehr zu diesem Thema mit ihm besprechen, denn es war ein unerhörtes Thema, - sowieso eines für die Erwachsenen, die auf ihre Kinder aufzupassen hatten.
„Wo ist Kim? Ist Großvater ein Sex-Unhold?“ fragte ich ihn dann doch noch ganz direkt. Onkel Bernie hatte mir mitgeteilt, dass Großvater Larry als privater Arbeitsvermittler in unserem Stadtteil tätig war und so ein paar Euro verdienen konnte. Darüber war ich keineswegs erbost, warum auch? Aber ich fragte nach Kim und ihm, diesem … Unhold  – und der Onkel antwortete auf meine Fragen mit: „Wir wissen nicht, wo sie ist. Die Kriminalpolizei sucht und sucht. Sie sucht nach beiden. Mehr weiß ich ja auch nicht, … Junge!“ Hierauf nickte ich, ließ ihn meine Verzweiflung über das Verschwinden meiner Schwester Kim nicht anmerken.

Überhaupt war ich in diesen Tagen schlecht drauf, wogegen Mutter sich eher ungerührt zeigte, aber das war von ihr kaum anders zu erwarten. Bruder Philipp zeigte mehr Anteilnahme an Kims Schicksal als sie. Ich und Bernie: wir waren die am meisten an der Rückkehr Kims Interessierten, waren die zutiefst Besorgten.
Alles, was ich nicht selbst mit erfahren hatte, erfuhr ich von Onkel Bernie heute Nachmittag, am ersten folgenden Samstag nach dem Verschwinde-Samstag Großvaters und Kims im Wohnzimmer sitzend - meine Wasserpfeife beeindruckte ihn gar nicht, immer wütete er gegen sie. Philipp war jetzt bei den Zinnsoldaten. Mutter, wo war Mutter? Zunächst suchte ich sie vergeblich. Vermutlich … ach: da kam sie ja zur Wohnungstür herein! Ich grüßte sie trübe. Sie entzog sich dann schnell meinen Blicken und Worten. Das machte mir im Grunde nichts aus. Onkel Bernie saß mir gegenüber, in der Ablehnung meiner Wasserpfeife unterschied sich Onkel Bernie nicht von meinem verschwundenen Großvater. Und Onkel Bernie kniff seine Lippen zusammen und wurde bleich im Gesicht, als ihm über Telefon eine Nachricht gegeben wurde, eine Nachricht, die ihm offensichtlich sehr zu schaffen machte: Kim war tot. Kim hatte sich das Leben genommen, weil Großvater ihr zu nahe gekommen war, wie die Polizistin an der Strippe mitteilte. Sie war vom Balkon eines Hauses in die Tiefe gesprungen! Nach Großvater Larry wurde seitdem polizeilich gefahndet! Diese beiden traurigen Nachrichten gab mein Onkel sofort an uns weiter. Natürlich sanken wir alle sofort in tiefste Trauer. Ich rannte zu meinem Bruder Philipp, der vor Trauer und Wut mit Zinnsoldaten um sich warf. Ich versuchte ihn davon abzubringen, aber es misslang. Onkel Bernie redete erfolglos auf ihn ein. Mutter war vorhin von einer ambulanten psychiatrischen Behandlung zurückgekommen und lachte nach Erhalt der Nachricht unausgesetzt in den Spiegel, der im Flur hing.
Ich habe mich in ihm nie richtig wiedererkannt.

Ende

Kay Ganahl
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Kommentare zu diesem Text

Alegra (41)
(27.04.10)
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