Lucky Liu
Erzählung zum Thema Abgrenzung
von KayGanahl
Lucky Liu, eine sportliche junge Dame im Alter von 19 Jahren wollte nicht nach oben gehen. Sie liebte die Musik: In diesen Minuten ging sie in ihr auf. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und aus dem Haus gehüpft - hätte allzu gern auf den Autodächern getanzt . Es wippte jetzt ihr kleiner Busen im Takt eines fetzigen Rocksongs, als sie nach dem passenden religiösen Gefühl suchte, das sie für ihre neue Andacht benötigte. Sie befand sich heute (seit Stunden) auf der Wohnzimmercouch! Auf einmal riss einer ihrer amüsanten schmalen Gedankengänge ab. Lucky saß dann ganz still, sie lauschte, schnupperte und ihr Gesicht verzerrte sich. In der Küche im 1. Obergeschoss des Hauses stank es fürchterlich nach einem Ragout, was gerade zubereitet wurde. Der Gestank war auch im Wohnzimmer zu riechen, in dem sich Lucky befand. Mathilde fuhrwerkte in ihrer kleinen, multifunktionellen Küche herum. Stieftochter Lucky wollte jetzt nicht nach oben!
Mathilde musste sich immer genau konzentrieren, wenn sie in der Küche am arbeiten war. Sie war eine Perfektionistin. Sie wollte möglichst kein ablenkendes Geräusch zu sich vordringen lassen, denn sie war sehr geräuschempfindlich. Kaum fand einmal eine Stimme aus dem im Wohnzimmer des Erdgeschosses laufenden Fernsehgerät den Weg zu ihr. Oder eine andere Stimme. Oder irgendein Musikstück. Oder IRGENDWAS. Ihre Schmerzensschreie, die sie ausstieß, wenn doch einmal etwas belästigend bis zu ihr vorgedrungen war, waren meist laut vernehmbar. Für Mathilde war jede Belästigung dieser Art nämlich unerträglich. Vor lauter Empörung stürzte sie schon mal die Treppe herunter und machte Lucky zur Schnecke. Das musste Lucky tapfer aushalten, die in solchen Situationen häufig vor dem Fernsehgerät saß, um eine dieser blöden Shows zu konsumieren. Nicht selten wurden Mathilde von ihr im Falle ihres Auftauchens im Wohnzimmer bei laufendem Fernseher mit Entgegnungen wie zum Beispiel „Das macht doch nichts!“ oder „Wir müssen doch auch mal wissen, was in der Welt passiert!“ oder „Die anderen haben eben andere Interessen!“ empfangen, die sie allerdings nicht beruhigen konnten. Gut war, dass es nicht zu Gewaltausbrüchen kam. Mathilde zog sich schließlich immer wieder in ihre Küche zurück. Es war ja auch Tag für Tag viel zu tun. Doch ein „Euch ist nicht zu helfen!“ schrie sie gelegentlich, vielleicht aus Rache, die Treppe herunter. Lucky hätte ihre Stiefmutter dann ohrfeigen können.
Luckys Gesicht war ganz verzerrt. Aber Lucky fand wieder rasch zu ihren Gedanken zurück. Und sie sagte jetzt bezüglich Gestank: „Das … ist … wie … immer.“ Das erwünschte religiöse Gefühl stellte sich ein. Mit Disziplin konzentrierte sie sich auf ihre neue Andacht. Ein dröhnender Bass leitete sie in die Welt der Gedanken und Gefühle, die sie liebte und in denen sie am liebsten ständig wäre. Allmählich entzerrte sich Luckys Gesicht. Äußerlich war ihr eine tiefe Religiosität anzusehen.
Leider musste sie auch an ihre allgegenwärtige Stiefmutter Mathilde denken, heute wollte Lucky Mathilde nur zum Mittagessen sehen. Sie war von ihr mal wieder angewidert. Die Mittage waren frei für das Essen, was täglich für alle im Haus zubereitet wurde. Das war ein wichtiger Teil des Alltagslebens. - Die seit Wochen arbeitslose Lucky liebte es sehr bei ihren Pistolen, die meistens Tag und Nacht anwendungsbereit auf der Wohnzimmercouch lagen, zu sitzen, zu liegen oder zu stehen. Seit sie ihre Andacht durchführte, geschah fürwahr etwas Besonderes. Sie führte zu Klängen lauter Rockmusik für sich allein diese eine bedeutende Andacht des Todes durch, für die sie ihre Pistolen, die allesamt funktionstüchtig waren, benötigte.
Luckys Absichten in der Gegenwart und in der Zukunft brauchten unbedingt eine religiöse Basis. Mathilde durfte davon nichts wissen, nicht einmal ahnen. Sie durfte von Lucky wahrhaftig nicht alles wissen.
Sollte Mathilde oben in der Küche noch länger fuhrwerken, damit Lucky ihre Andacht des Todes zu Ende führen konnte! Lucky wollte zu Mathilde sowieso so wenig Kontakt wie möglich haben. In den Augen Mathildes lungerte Lucky nur herum, tat nichts von Wichtigkeit und war, wie sie Lucky ins Gesicht gesagt hatte, eine „ahnungslose Person“. Ein solches zwischenmenschliches Verhältnis im Alltag auszuhalten war nicht immer ganz einfach, doch Lucky hatte sich mit Beginn ihrer Arbeitslosigkeitsphase fest vorgenommen, es mit Duldsamkeit zu quittieren, zumal Mathilde nicht immer nahe des Unerträglichen sprach und agierte.
Was noch? Nun …? Lucky erinnerte sich dessen höchst gern, denn mittels dieser Erinnerung konnte sie sich moralisch viel höher einstufen als Mathilde. Während ihrer heutigen Andacht des Todes, als sie einige Momente lang mit den Pistolen zur Musik tanzte, drängte sich die Erinnerung daran aber massiv auf, sie war gar nicht zu vermeiden, da sie den Tanz anreicherte. Lucky war in Trance. Und das war ungeheuerlich … das Grauen packte Lucky beim Gedanken an Mord, denn sie war ein Mensch, der Kapitalverbrechen zutiefst verabscheute und absolut ablehnte. Mathilde war nämlich eine Mörderin, - Lucky wusste es genau, da Mathilde unter dem Wohnmobil, das auf dem heimischen Grundstück geparkt war, mehrere Leichen vergraben hatte, die Lucky vor einigen Wochen fand, weil sie krampfhaft nach Gründen suchte, um ihre Stiefmutter zu bekämpfen. Sie hatte etwas gefunden, gewiss! Doch ihre arbeitsame und pflichtgetreue Stiefmutter Mathilde war für ihr soziales Umfeld, also ihre Angehörigen, die Freundschaften und Bekanntschaften und die Nachbarn völlig unverdächtig. Sie galt allgemein als seriös und integer. Ihr Image in der Stadt war sauber, von daher konnte ihr Lucky wirklich nur mit harten Bandagen beikommen!
Natürlich wollte Lucky ihre Stiefmutter über kurz oder lang loswerden. Es war ihr nicht zu verdenken: Sie kannte sie mit allen ihren Eigenheiten, wusste einiges über sie. Für Lucky war sie ein unfasslich brutales Wesen mit übelsten sexuellen Obsessionen. Mehrmals hatte sie sie beobachten können. Sie hatte sie mit der alten V8-Videokamera des Vaters Clarence Z. Tom genüsslich gefilmt. Dieser Stiefmutter wollte Lucky, so malte sie sich aus, irgendwann das Handwerk legen …
Lucky führte immer noch ihre Andacht des Todes durch, war ganz in blaue Wolldecken gehüllt. Es befand sich ein Stapel Illustrierten vor ihr auf dem Teppichboden, auf dem sie rumtanzte und die Illustrierten kreuz und quer im Wohnzimmer verbreitete. Die Musik stellte sie dann aber ab. Nach einigen Minuten stand sie mitten im Wohnzimmer und starrte still die Zimmerdecke an. Nicht etwa, dass sich Lucky als unfehlbar, rein, liebenswert, oder gar als Heilige oder bußfertige Sünderin sah, weit gefehlt! Die Andacht des Todes gelang ihr heute gut, weil sie Mathilde heute besonders stark hasste, diesen Hass in die Andacht perfekt einbaute.
Sie dachte an die Leichen unter dem Wohnmobil. Sie roch sie. Vater Clarence Z. Tom, der in seinem schnieken Outfit als Ministerialdirektor in einem der Ministerien, die in unserer Hauptstadt angesiedelt waren, tätig war und so so so wenig Zeit für seine Family hatte, hätte natürlich längst eine Info bekommen müssen, aber ihn mit derartigem zu belasten, würde ihm nicht nur den Schlaf rauben, sondern ihm viel eher noch einen Herzinfarkt verpassen.
Lucky bemühte sich, die blauen Wolldecken von sich nehmend, um kritische Gedanken, aus denen sie schließlich Fragen entwickelte: Wo war der Polizeihund, der diese Leichen aufspürte? Wo waren die Beamten der örtlichen Polizei, die diesen Hund herbeiführten, ohne dass Lucky sie vorher hatte informieren müssen?! Schade eigentlich, dass sie örtliche Polizeibehörde von sich aus nicht auf die Leichen unter dem Wohnmobil kam. Lucky hätte ihr viel mehr zugetraut!
Alldieweil ist das Leben in dieser Gesellschaft für den normalen Menschen nicht so sonnig, dachte Lucky. Dann bemerkte sie, dass ihre Freundin Sandy Xanten im Wohnzimmer war. Sandy lächelte sie freundlich an. Sie hatte von ihr einen Haustürschlüssel bekommen. Wenn Mathilde das gewusst hätte!
Sandy sagte: „Hier bin ich, …. schon fertig mit der Andacht?“
„Ja. Ich muss gleich essen!“
„Du führst jede Andacht doch sonst immer zu Ende, Lucky!“
„Heute nicht!! Heute mal nicht!!!“ sagte sie unwirsch zu Sandy und blickte auf die Illustrierten, die nunmehr in Fetzen auf dem Boden lagen. „Das ganze Zeug muss noch aufgeräumt und weggeworfen werden!“
„Lass es doch liegen, Lucky …!“ sagte Sandy, aber Lucky räumte schon auf. Nach ein paar Minuten kam es Lucky wieder hoch, Mathilde wurde thematisiert: „Diese Person ist nur meine Stiefmutter, ich hasse sie!“
Sie saßen jetzt beide auf der Wohnzimmercouch. Mathilde hatte immer noch nicht zum Mittagessen gerufen. Luckys letzte Äußerung wurde von Sandy mit einem zustimmenden Nicken kommentiert. Es fiel ein Sonnenstrahl auf Luckys schönes blondes Haar, als Sandy sie umarmte und abzuküssen versuchte. Lucky wehrte das mit einer freundlichen Geste ab, denn sie konnte Annäherungen dieser Art nicht ertragen.
„Diese Frau … ist ein Monster!“ rief Lucky nunmehr aus und lachte hämisch. „Ich … ich hasse sie!“
Sandy hatte ihre Freundin Lucky nach einer gemeinsam begangenen Andacht des Todes eigentlich zu einem Freizeitspaß mitnehmen wollen, um das Mittagessen Mathildes zu ignorieren. Sie saß mit ihr aber nun bloß bedrückt auf der Couch herum. Würde Sandy gleich, nach dem Mittagessen, mit Lucky einen Spaziergang durch die Lilly-Allee unternehmen, wo die Spatzen von den Ästen jubelten und die anderen Spaziergänger Papierknäuel in die Vorgärten werfen für ein fröhliches Ritual hielten, das sie unbedingt durchhalten mussten? Das war durchaus möglich!
In dieser Stadt lief so einiges schief, die Moralapostel traten in Scharen auf, änderten aber nichts. Die Behörden schienen zu größeren Teilen in einen Tiefschlaf gefallen zu sein, der sie vom schnellen erfolgsorientierten Handeln und Durchgreifen abhielt. Die politische Führung thronte selbstgefällig, wie die Medien berichteten, und sie sagte immer wieder, dass kein Geld für längst erkannte notwendige Maßnahmen vorhanden sei, … kurz gesagt: BECKVILLE war keine Stadt, in der zu leben allzu angenehm war. Und das Alltagsleben muss ja dafür entscheidend sein, ob man es in einer Stadt aushalten kann oder nicht.
Sie saßen weiterhin beisammen und warteten auf den Ruf Mathildes, der aber nicht kam. Lucky starrte stupide ins Leere, Sandy versuchte immer wieder mit ihr ins Gespräch zu kommen. Dann richtete sich die gelangweilte Sandy von der Couch auf, gab der missmutigen Lucky einen Kuss, und dann verließ Sandy eilends das Wohnzimmer. Lucky zuckte ein wenig zusammen.
Rief Sandy nach: „Ich könnte ohne Dich nicht ruhig einschlafen!“ Aber Sandy schien das nicht zu hören, sie verließ das Haus und war erst einmal fort. Als Mathilde endlich zum Mittagessen ins 1. Obergeschoss des Hauses rief, da begab sich Lucky wie immer in die Küche, saß mit Mathilde am Esstisch und schob eine Gabel mit Fleisch nach dem anderen in sich hinein, obwohl sie diese Speise gar nicht mochte.
Kay Ganahl
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Mathilde musste sich immer genau konzentrieren, wenn sie in der Küche am arbeiten war. Sie war eine Perfektionistin. Sie wollte möglichst kein ablenkendes Geräusch zu sich vordringen lassen, denn sie war sehr geräuschempfindlich. Kaum fand einmal eine Stimme aus dem im Wohnzimmer des Erdgeschosses laufenden Fernsehgerät den Weg zu ihr. Oder eine andere Stimme. Oder irgendein Musikstück. Oder IRGENDWAS. Ihre Schmerzensschreie, die sie ausstieß, wenn doch einmal etwas belästigend bis zu ihr vorgedrungen war, waren meist laut vernehmbar. Für Mathilde war jede Belästigung dieser Art nämlich unerträglich. Vor lauter Empörung stürzte sie schon mal die Treppe herunter und machte Lucky zur Schnecke. Das musste Lucky tapfer aushalten, die in solchen Situationen häufig vor dem Fernsehgerät saß, um eine dieser blöden Shows zu konsumieren. Nicht selten wurden Mathilde von ihr im Falle ihres Auftauchens im Wohnzimmer bei laufendem Fernseher mit Entgegnungen wie zum Beispiel „Das macht doch nichts!“ oder „Wir müssen doch auch mal wissen, was in der Welt passiert!“ oder „Die anderen haben eben andere Interessen!“ empfangen, die sie allerdings nicht beruhigen konnten. Gut war, dass es nicht zu Gewaltausbrüchen kam. Mathilde zog sich schließlich immer wieder in ihre Küche zurück. Es war ja auch Tag für Tag viel zu tun. Doch ein „Euch ist nicht zu helfen!“ schrie sie gelegentlich, vielleicht aus Rache, die Treppe herunter. Lucky hätte ihre Stiefmutter dann ohrfeigen können.
Luckys Gesicht war ganz verzerrt. Aber Lucky fand wieder rasch zu ihren Gedanken zurück. Und sie sagte jetzt bezüglich Gestank: „Das … ist … wie … immer.“ Das erwünschte religiöse Gefühl stellte sich ein. Mit Disziplin konzentrierte sie sich auf ihre neue Andacht. Ein dröhnender Bass leitete sie in die Welt der Gedanken und Gefühle, die sie liebte und in denen sie am liebsten ständig wäre. Allmählich entzerrte sich Luckys Gesicht. Äußerlich war ihr eine tiefe Religiosität anzusehen.
Leider musste sie auch an ihre allgegenwärtige Stiefmutter Mathilde denken, heute wollte Lucky Mathilde nur zum Mittagessen sehen. Sie war von ihr mal wieder angewidert. Die Mittage waren frei für das Essen, was täglich für alle im Haus zubereitet wurde. Das war ein wichtiger Teil des Alltagslebens. - Die seit Wochen arbeitslose Lucky liebte es sehr bei ihren Pistolen, die meistens Tag und Nacht anwendungsbereit auf der Wohnzimmercouch lagen, zu sitzen, zu liegen oder zu stehen. Seit sie ihre Andacht durchführte, geschah fürwahr etwas Besonderes. Sie führte zu Klängen lauter Rockmusik für sich allein diese eine bedeutende Andacht des Todes durch, für die sie ihre Pistolen, die allesamt funktionstüchtig waren, benötigte.
Luckys Absichten in der Gegenwart und in der Zukunft brauchten unbedingt eine religiöse Basis. Mathilde durfte davon nichts wissen, nicht einmal ahnen. Sie durfte von Lucky wahrhaftig nicht alles wissen.
Sollte Mathilde oben in der Küche noch länger fuhrwerken, damit Lucky ihre Andacht des Todes zu Ende führen konnte! Lucky wollte zu Mathilde sowieso so wenig Kontakt wie möglich haben. In den Augen Mathildes lungerte Lucky nur herum, tat nichts von Wichtigkeit und war, wie sie Lucky ins Gesicht gesagt hatte, eine „ahnungslose Person“. Ein solches zwischenmenschliches Verhältnis im Alltag auszuhalten war nicht immer ganz einfach, doch Lucky hatte sich mit Beginn ihrer Arbeitslosigkeitsphase fest vorgenommen, es mit Duldsamkeit zu quittieren, zumal Mathilde nicht immer nahe des Unerträglichen sprach und agierte.
Was noch? Nun …? Lucky erinnerte sich dessen höchst gern, denn mittels dieser Erinnerung konnte sie sich moralisch viel höher einstufen als Mathilde. Während ihrer heutigen Andacht des Todes, als sie einige Momente lang mit den Pistolen zur Musik tanzte, drängte sich die Erinnerung daran aber massiv auf, sie war gar nicht zu vermeiden, da sie den Tanz anreicherte. Lucky war in Trance. Und das war ungeheuerlich … das Grauen packte Lucky beim Gedanken an Mord, denn sie war ein Mensch, der Kapitalverbrechen zutiefst verabscheute und absolut ablehnte. Mathilde war nämlich eine Mörderin, - Lucky wusste es genau, da Mathilde unter dem Wohnmobil, das auf dem heimischen Grundstück geparkt war, mehrere Leichen vergraben hatte, die Lucky vor einigen Wochen fand, weil sie krampfhaft nach Gründen suchte, um ihre Stiefmutter zu bekämpfen. Sie hatte etwas gefunden, gewiss! Doch ihre arbeitsame und pflichtgetreue Stiefmutter Mathilde war für ihr soziales Umfeld, also ihre Angehörigen, die Freundschaften und Bekanntschaften und die Nachbarn völlig unverdächtig. Sie galt allgemein als seriös und integer. Ihr Image in der Stadt war sauber, von daher konnte ihr Lucky wirklich nur mit harten Bandagen beikommen!
Natürlich wollte Lucky ihre Stiefmutter über kurz oder lang loswerden. Es war ihr nicht zu verdenken: Sie kannte sie mit allen ihren Eigenheiten, wusste einiges über sie. Für Lucky war sie ein unfasslich brutales Wesen mit übelsten sexuellen Obsessionen. Mehrmals hatte sie sie beobachten können. Sie hatte sie mit der alten V8-Videokamera des Vaters Clarence Z. Tom genüsslich gefilmt. Dieser Stiefmutter wollte Lucky, so malte sie sich aus, irgendwann das Handwerk legen …
Lucky führte immer noch ihre Andacht des Todes durch, war ganz in blaue Wolldecken gehüllt. Es befand sich ein Stapel Illustrierten vor ihr auf dem Teppichboden, auf dem sie rumtanzte und die Illustrierten kreuz und quer im Wohnzimmer verbreitete. Die Musik stellte sie dann aber ab. Nach einigen Minuten stand sie mitten im Wohnzimmer und starrte still die Zimmerdecke an. Nicht etwa, dass sich Lucky als unfehlbar, rein, liebenswert, oder gar als Heilige oder bußfertige Sünderin sah, weit gefehlt! Die Andacht des Todes gelang ihr heute gut, weil sie Mathilde heute besonders stark hasste, diesen Hass in die Andacht perfekt einbaute.
Sie dachte an die Leichen unter dem Wohnmobil. Sie roch sie. Vater Clarence Z. Tom, der in seinem schnieken Outfit als Ministerialdirektor in einem der Ministerien, die in unserer Hauptstadt angesiedelt waren, tätig war und so so so wenig Zeit für seine Family hatte, hätte natürlich längst eine Info bekommen müssen, aber ihn mit derartigem zu belasten, würde ihm nicht nur den Schlaf rauben, sondern ihm viel eher noch einen Herzinfarkt verpassen.
Lucky bemühte sich, die blauen Wolldecken von sich nehmend, um kritische Gedanken, aus denen sie schließlich Fragen entwickelte: Wo war der Polizeihund, der diese Leichen aufspürte? Wo waren die Beamten der örtlichen Polizei, die diesen Hund herbeiführten, ohne dass Lucky sie vorher hatte informieren müssen?! Schade eigentlich, dass sie örtliche Polizeibehörde von sich aus nicht auf die Leichen unter dem Wohnmobil kam. Lucky hätte ihr viel mehr zugetraut!
Alldieweil ist das Leben in dieser Gesellschaft für den normalen Menschen nicht so sonnig, dachte Lucky. Dann bemerkte sie, dass ihre Freundin Sandy Xanten im Wohnzimmer war. Sandy lächelte sie freundlich an. Sie hatte von ihr einen Haustürschlüssel bekommen. Wenn Mathilde das gewusst hätte!
Sandy sagte: „Hier bin ich, …. schon fertig mit der Andacht?“
„Ja. Ich muss gleich essen!“
„Du führst jede Andacht doch sonst immer zu Ende, Lucky!“
„Heute nicht!! Heute mal nicht!!!“ sagte sie unwirsch zu Sandy und blickte auf die Illustrierten, die nunmehr in Fetzen auf dem Boden lagen. „Das ganze Zeug muss noch aufgeräumt und weggeworfen werden!“
„Lass es doch liegen, Lucky …!“ sagte Sandy, aber Lucky räumte schon auf. Nach ein paar Minuten kam es Lucky wieder hoch, Mathilde wurde thematisiert: „Diese Person ist nur meine Stiefmutter, ich hasse sie!“
Sie saßen jetzt beide auf der Wohnzimmercouch. Mathilde hatte immer noch nicht zum Mittagessen gerufen. Luckys letzte Äußerung wurde von Sandy mit einem zustimmenden Nicken kommentiert. Es fiel ein Sonnenstrahl auf Luckys schönes blondes Haar, als Sandy sie umarmte und abzuküssen versuchte. Lucky wehrte das mit einer freundlichen Geste ab, denn sie konnte Annäherungen dieser Art nicht ertragen.
„Diese Frau … ist ein Monster!“ rief Lucky nunmehr aus und lachte hämisch. „Ich … ich hasse sie!“
Sandy hatte ihre Freundin Lucky nach einer gemeinsam begangenen Andacht des Todes eigentlich zu einem Freizeitspaß mitnehmen wollen, um das Mittagessen Mathildes zu ignorieren. Sie saß mit ihr aber nun bloß bedrückt auf der Couch herum. Würde Sandy gleich, nach dem Mittagessen, mit Lucky einen Spaziergang durch die Lilly-Allee unternehmen, wo die Spatzen von den Ästen jubelten und die anderen Spaziergänger Papierknäuel in die Vorgärten werfen für ein fröhliches Ritual hielten, das sie unbedingt durchhalten mussten? Das war durchaus möglich!
In dieser Stadt lief so einiges schief, die Moralapostel traten in Scharen auf, änderten aber nichts. Die Behörden schienen zu größeren Teilen in einen Tiefschlaf gefallen zu sein, der sie vom schnellen erfolgsorientierten Handeln und Durchgreifen abhielt. Die politische Führung thronte selbstgefällig, wie die Medien berichteten, und sie sagte immer wieder, dass kein Geld für längst erkannte notwendige Maßnahmen vorhanden sei, … kurz gesagt: BECKVILLE war keine Stadt, in der zu leben allzu angenehm war. Und das Alltagsleben muss ja dafür entscheidend sein, ob man es in einer Stadt aushalten kann oder nicht.
Sie saßen weiterhin beisammen und warteten auf den Ruf Mathildes, der aber nicht kam. Lucky starrte stupide ins Leere, Sandy versuchte immer wieder mit ihr ins Gespräch zu kommen. Dann richtete sich die gelangweilte Sandy von der Couch auf, gab der missmutigen Lucky einen Kuss, und dann verließ Sandy eilends das Wohnzimmer. Lucky zuckte ein wenig zusammen.
Rief Sandy nach: „Ich könnte ohne Dich nicht ruhig einschlafen!“ Aber Sandy schien das nicht zu hören, sie verließ das Haus und war erst einmal fort. Als Mathilde endlich zum Mittagessen ins 1. Obergeschoss des Hauses rief, da begab sich Lucky wie immer in die Küche, saß mit Mathilde am Esstisch und schob eine Gabel mit Fleisch nach dem anderen in sich hinein, obwohl sie diese Speise gar nicht mochte.
Kay Ganahl
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