Flick

Roman zum Thema Gewalt

von  Mutter

Ich finde mich irgendwann auf der Couch wieder. Manu hat mich in eine Decke gehüllt, den einen Arm um mich gelegt und meinen Kopf auf ihren Schoß gebettet. Sie sitzt im Schneidersitz neben mir, streicht mir unablässig über die Haare. Mir wird bewusst, dass wir offenbar schon seit Ewigkeiten so sitzen. Die Bewegung an meinem Kopf fühlt sich so an, als hätte sie nie etwas anderes gemacht - als gehöre diese Hand da hin.
Meine Zähne klappern, ich habe Schüttelfrost. Nach und nach lässt das Gefühl von Kälte nach. Ich versuche, mich tiefer in die weiche Decke zu graben, mich in die Wärme zu wühlen. Vielleicht gebe ich auch fast so etwas wie einen Schnurrlaut von mir – Manu rubbelt mir kurz die Locken wie einem Haustier.
„Ich fühle mich so müde.“ Meine Stimme gleicht einem Flüstern - ich bin nicht mal sicher, dass sie mich gehört hat. Erst als sie mir antwortet. „Ja.“
Das Telefon klingelt, schreckt uns beide auf. Nach einem Moment der Erstarrung löst sich Manu vorsichtig aus unserer Umarmung. Ich hebe den Kopf, um sie gehen zu lassen, sehe ihr nach. Fische dann mein Handy aus der Tasche, um zu sehen, wie spät es ist. Kurz nach elf. Drei Anrufe in Abwesenheit. Die Nummer kenne ich nicht – alles die gleiche Festnetznummer.
Manu taucht wieder im Wohnzimmer auf, den Hörer in der Hand. Sie presst die Handfläche auf das Mikro. „Es ist Wehmeier.“ Sieht mich dabei besorgt an.
Ich zucke mit den Achseln. Obwohl ich nicht gerade Lust auf das Gespräch habe, strecke ich die Hand aus. Was soll ich auch machen – vermutlich hat sie ihm ja gesagt, dass ich hier bin.
„Ja?“
„Ich habe schon versucht, Sie übers Handy zu erreichen.“ Ich kann nicht erkennen, ob da ein Vorwurf in seiner Stimme mitschwingt.
„Sie waren das“, antworte ich lahm. Fühle mich zu kaputt für Spielchen - will, dass er zur Sache kommt.
„Ich habe Frau Karmann schon gefragt – könnten Sie vielleicht heute Nachmittag ins Präsidium kommen?“
„Sicher.“ Dabei weiß ich schon, was Sie mir sagen wollen, denke ich. Von Martina Hauptmann will er mir erzählen.
„Würde Ihnen gegen Vier passen?“
„In Ordnung, wir kommen.“ Nach einer knappen Verabschiedung lege ich auf.
„Es geht um das neue Opfer, oder?“, will Manu wissen, die vor mir steht. Ihre Augen sehen in dem trüben Nachmittagslicht riesig aus.
„Schätze schon. Ist Vier okay?“
„Klar. Hat er mich auch gefragt. Ich habe keine weiteren Termine heute.“
„Außer deinen Designs“, sage ich mit einem Lächeln.
„Außer den Designs.“
Bevor ich noch etwas sagen kann, blinkt mein Handy auf. Ich habe den Vibrationsalarm ausgeschaltet – sonst hätte ich Wehmeier vorhin vermutlich bemerkt. Es ist Frank.
„Hast du was?“
Er zögert. „Ja, ich glaube schon. Bist du abkömmlich?“
Ich muss mich zusammenreißen, nicht laut aufzulachen. Oder in den Hörer zu schreien. Frank, du Arsch, seit ein paar Tagen bin ich nichts anderes als abkömmlich. Seit Luisa weg ist.
„Ja“, antworte ich heiser.
„Ich komme hier gerade nicht weg, aber ich würde dir Matze schicken. Der zeigt dir was, und nimmt die Unterlagen dann wieder mit. Die kannst du leider nicht behalten.“
„Kein Problem.“ Ich unterdrücke den Wunsch, ihm zuzusetzen. Wenn er ein kleines Versteckspiel betreiben möchte – bitte. Seine Infos, seine Regeln. „Wohin?“
„Ist die Skalitzer Straße, direkt unter der Hochbahn okay?“
„Welche Höhe?“
„Kurz vorm Wassertorplatz. In einer dreiviertel Stunde?“
„In Ordnung.“ Nach einem Moment füge ich ein: „Danke“ hinzu.
Als ich auch das Gespräch beendet habe, bemerke ich Manus Blick. Der von mir wissen will, was ich weiß. Der sagt: Ich habe ein Recht darauf, Anteil zu haben. Sie war meine Schwester! Aber sie bleibt stumm, und als ich nichts sage, wendet sie sich ab.
„Ich habe Hunger. Du auch?“

Während wir uns ein Essen aus Fetakäse, Tomaten und einem ofenwarmen Ciabatta bereiten und zusammen am Tisch sitzen, entsteht fast so etwas wie eine entspannte Stimmung. Sie versucht, mich ihre Enttäuschung nicht spüren zu lassen. Während ich auf einem Bissen herumkaue, denke ich darüber nach, was Luisa sagen würde. Ob sie wollen würde, dass ich Manu alles sage. Dass dort draußen ein Killer rumrennt, der nicht nur ihre Schwester auf bestialische Weise ermordet hat, sondern auch weitere Frauen. Opfer, denen Manu ähnlich sieht.
Unglücklich verziehe ich das Gesicht, als ich zu dem Schluss komme, dass ich Manu die Wahrheit sagen muss. Sie hat ein Recht darauf. Sagt Luisa leise in meinem Kopf - übertönt damit die zweite Stimme. Die, die Manu aus allem raushalten will, um sie zu beschützen. Sie retten, und damit das tun, was ich bei Luisa nicht geschafft habe. Kläglich versagt habe.
„Was ist los?“ Anscheinend hat sie mir angesehen, dass ich zu einer Art Entschluss gelangt bin.
Erst rede ich mit Matze. „Nichts. Ich bin nicht lange weg, in Ordnung?“
Sie nickt bloß, sieht mir zu, während ich aufstehe, um zu gehen. Ruft mir hinterher: „Nimm den zweiten Schlüssel mit.“
Ich spüre ihren Blick weiter auf mir, bis ich die Wohnungstür leise hinter mir zuziehe.

Matze ist schon da, als ich ankomme. Schmeißt seine halbgerauchte Kippe auf dem Boden, drückt sie mit der Kreisbewegung seiner Turnschuhe aus. Wir schütteln uns die Hände, während über uns die Bahn entlangrumpelt. Nochmal so eine Kino-Atmosphäre, wie in einem amerikanischen Flick.
Ich ignoriere den brauen DINA4-Umschlag höflich, den Matze in der Linken hält, bis er ihn mir hinhält. Wortlos öffne ich ihn, ziehe Fotos heraus. Zwei weitere Frauen, die Martina Hauptmann ähnlich sehen. Und eine gewisse Ähnlichkeit mit  Luisa und Manuela Karmann besitzen. Die ganze Szene kommt mir auf einmal furchtbar unwirklich vor. Mein Hals schnürt sich zu, die Zunge reibt sich trocken am Gaumen und ich spüre, wie meine Sicht sich verengt.
„Wer ist das?“, frage ich mit einer Stimme, die sich nicht wie meine anhört. Matze antwortet nicht - hat ein paar Schritte weggemacht. Sieht rüber zu den Skatern, die in einem trockengelegten Brunnen auf der anderen Straßenseite üben.
„Du hast keine Ahnung, was du mir da gebracht hast, oder?“ Ich bin nicht sicher, ob mein dünnes Stimmchen es bis zu ihm schafft, aber er schüttelt den Kopf. Beugt ihn runter, um sich eine weitere Zigarette anzuzünden. „Pass bloß auf, dass du Frank aus der Scheiße raushältst, okay?“ Er wirft mir einen warnenden Blick über die Schulter zu, bevor er sich wieder den Kids zuwendet.
Ich nicke. Nehme an, wenn das wer erfährt, kostet es Frank alles. Den Job, die Pension. Keine Ahnung, ob ich mich strafbar mache – könnte Wehmeier seinen ätzenden Assistenten von der Kette lassen, um mich zu schnappen. Fass, Dombrowski, fass.
„Frank sagt, du sollst ihn anrufen.“ Diesmal macht Matze sich nicht mal die Mühe, sich umzudrehen. Ich nicke wortlos, krame das Handy heraus.
„Hey“, sage ich, als er sich meldet.
„Du hast die Unterlagen?“
Wieder überläuft es mich mit einem kalten Schauer. „Halte sie hier in meinen Händen. Wer sind die Frauen?“
„Weitere Opfer. Eine ist vor circa zwei Wochen umgebracht worden, die andere vor zwei Jahren.“
„Fuck.“ Ich starre ohne Fokus auf die Bilder in meiner Hand. Vor knapp vierzehn Tagen ist Tiger bei Manne aus der Wohnung verschwunden.
„Sag mal - hatte Luisa eine Tätowierung?“, will Frank wissen.
Ich brauche einen Augenblick, um zu raffen, dass die Frage an mich gerichtet ist. „Nein – wie kommst du darauf?“
„So wie es aussieht hatten alle anderen drei Opfer ein ähnliches Tattoo.“

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