„Hat das irgendwas mit dem Fall zu tun? Luca? Rede mit mir …“
Für meine nächste Frage brauche ich zwei Anläufe, bis ich sie herausbringe, muss mich mehrmals räuspern. „Wo sollte es hin?“
Sie zögert, erkennt meine Erregung. „Auf die Rippen. Linke Seite, in die Nähe des Herzens.“
Ich schließe kurz die Augen. Als würde mir das irgendwie helfen, mich zu sammeln. „Wusste sie, wo sie das machen lassen wollte? Hatte sie ein Studio?“
Manu nickt. „Tintenblut, in der Skalitzer.“
Ich weiß, wo der Laden ist, bin schon öfter dran vorbeigefahren. War allerdings noch nie drin. Das Bedürfnis, etwas zu tun, reißt mich fast von den Beinen. Ich will nicht mehr zur Untätigkeit verdammt sein. Bevor ich es realisiere, befinde ich mich auf dem Weg zur Tür. Schnappe mir meinen Helm, der völlig selbstverständlich auf der Kommode im Flur liegt. Als würde ich hier wohnen. Als würde ich hierher gehören. An der Pinnwand hängt ein Bild von Luisa und Manu – die beiden stehen vor Big Ben in London. Ich stecke das Foto ein.
„Luca! Was ist mit dem Termin bei Wehmeier?“, ruft mir Manu verunsichert hinterher. Ich weiß, ich sollte ihr alles erklären. Für sie da sein – aber dafür fehlt mir gerade die Kraft.
„Ich bin nicht lange weg. Warte auf mich – ich hole dich ab.“ Die Haustür klappt hinter mir zu, ich nehme die Stufen zwei oder drei auf einmal. Krame das Handy raus, rufe Dirty an. Er geht nicht ran – weder ans Handy noch ans Festnetz. Jede Wette, der schläft noch. Also muss ich das alleine machen, denke ich grimmig. Auch gut.
Ungeduldig trete ich die Maschine an, drücke mir den Helm auf den Kopf. Mache mir nicht die Mühe, die Schnallen zu schließen. Mit überhöhter Geschwindigkeit dröhne ich über verkehrsberuhigtes Kopfsteinpflaster, kreuze die Wiener geduckt, begleitet vom empörten Hupen eines Kleinlasters. Vorbei am Park, schieße ich in den zähfließenden Verkehr, wechsle alle paar Sekunden die Spur. Das Hupen wird zum Soundtrack meiner Fahrt. Leckt mich alle, denke ich, packe den Lenker feste und drehe das Gas hoch. Die Straße ist zweispurig, die andere Seite durch einen Grünstreifen und die Stelzen der überirdisch verlaufenden U-Bahn getrennt. Ich sehe aus dem Augenwinkel das Tintenblut, komme aber nicht rüber. Kommentiere die zusätzliche zeit, die ich brauche, mit einem Fluch.
Kurz vor dem Schlesischen Tor fahre ich unter der Hochbahn durch, mache einen U-Turn, um in die entgegengesetzte Richtung zu fahren. Drehe voll auf, um kurz vor dem Studio abrupt zu bremsen und kleinen Hopsern auf den breiten Gehweg zu rumpeln.
Ich kille den Motor, hänge den Helm am Lenker auf. Meine Ungeduld, mein Tatendrang verwandelt sich in Unsicherheit. Was mache ich hier?
Bevor ich den Gedanken weiter denken kann, marschiere ich auf den Laden zu. Die Schaufenster sind mit Fotos von Tattoos zugekleistert. Alle frisch gestochen – wund und roh, gerötet an den Rändern. Offenbar die einzige Chance, die Bilder zu machen; trotzdem habe ich nie verstanden, warum man Werbung mit etwas macht, das wie infiziert oder krank aussieht.
Eine kleine Glocke klingelt, als ich die Tür aufstehe. Drinnen befindet sich direkt am Fenster eine Gruppe aus Sofa und passenden Sesseln, in der Mitte ein kleiner Tisch. Darauf Hefter mit Schwarz-Weiß-Motiven für die Einfallslosen, auf der Suche nach einem 0815-Tattoo. Daneben ein dickeres Bündel mit weiteren Fotos – noch mehr frisch Infizierte. Hier können sich Kunden endlos lange mit ihrem Schweiß an das dunkle Kunstleder kleben und darüber brüten, mit welcher Fee, welcher Tante mit großen Brüsten oder welchem Tiger sie den Rest ihres Lebens verbringen müssen. Ich muss über meine eigene Ungerechtigkeit lächeln. Ich mag Manus Tätowierungen, und die Motive. Wahrscheinlich gibt es einfach für jedes wunderschöne Tattoo ungefähr zehn, mit denen man definitiv nicht begraben werden möchte.
Aus einem Durchgang nach hinten, der durch einen Tresen vom Rest des Ladens getrennt ist, kommt ein hagerer Kerl – groß genug, so dass er mir vermutlich direkt in die Augen sehen könnte, wenn er aufrecht stehen würde. Stattdessen macht er einen leicht buckligen Eindruck. Als würde ihm die Kraft fehlen, der Schwerkraft zu trotzen. Seine halblangen Haare sind in einen fettigen dunklen Zopf zusammengezogen und geben die lichter werdenden Schläfen frei. Ich schätze ihn auf vielleicht Mitte Dreißig. Die Akne-Narben in seinem Gesicht werden nur unzureichend durch die spärlichen Haare eines Teenager-Schnurrbartes verdeckt. Ich kann den Kerl auf Anhieb nicht ausstehen und hasse den Gedanken, dass sich Luisa von ihm hatte anfassen wollen. Sich vor ihm nackt gemacht hätte – daran zu denken verursacht ein Gefühl von Übelkeit.
„Schönen Tag – womit kann ich helfen?“
Ich nehme an, ich entspreche dem Klischee des klassischen Kunden in solchen Läden. Wahrscheinlich vermutet er, er muss mir helfen, noch freie Flecken auf meiner Haut zu finden. Ich bin vermutlich der einzige in Murats Crew, der nicht tätowiert ist. Die meisten haben mehr als eins.
Ungeduldig schüttle ich den Kopf. Ziehe das Bild von Luisa aus der Tasche, halte mit einer Hand Manu zu. „Haben Sie diese Frau hier schon mal gesehen?“ Während ich die Frage stelle und ihm das Foto hinhalte, beobachte ich ihn aufmerksam. Will sehen, was seine Reaktion ist.
Sein erster Instinkt ist es, nach dem Foto zu greife. Ich weiche zurück, protestiere stumm. Er wirft mir einen kurzen Blick zu, um zu sehen, was abgeht, beugt sich dann vor. Betrachtet das Foto, schüttelt den Kopf. Schürzt die Lippen und sagt: „Tut mir leid, noch nie gesehen. Warum fragen Sie?“
Ich will ihm eine knallen, jetzt sofort. Die Wahrheit aus ihm rausprügeln. Weil er lügt, wenn Manu die Wahrheit sagt, und weil mir mein Instinkt sagt, dass es so ist. Nein, mein Instinkt sagt es nicht, der schreit es heraus. Der Typ sieht aus wie der geborene Lügner – der könnte auch Gebrauchtwagen verkaufen. Könnte er auch Luisa umbringen – und drei andere? Wenn ich ihn zu Boden schmeiße und auf ihn einprügele, bis er lacht, sagt er es mir. Ein befriedigender Kurzfilm, der mit seinem zerschlagenen Gesicht, losen Zähnen und viel Blut zu tun hat, flasht durch meinen Kopf. Ich schiebe die Bilder gewaltsam weg. „Sind Sie sicher? Sie müsste hier gewesen sein, um einen Termin zu machen.“
Er schaut nochmal auf meine Hand, schüttelt wieder den Kopf. „Tut mir leid. Was für ein Motiv? Oft kann ich mich an die Bilder besser erinnern als an die Gesichter.“ Er lächelt entschuldigend und zuckt mit den Achseln - wieder überfällt mich der Wunsch, ihm wehzutun.
Ich ärgere mich, dass ich Manus Entwürfe nicht mitgenommen habe. Versuche so gut es geht, das Motiv zu beschreiben, lege mir die Hände auf die linke Seite, um ihr zu zeigen, wo es hinsollte. Er beobachtet mich aufmerksam, hört mir zu – als würde ihn wirklich interessieren, was ich sage. Am Ende schüttelt er erneut den Kopf. „Ich bin mir sicher, daran würde ich mich erinnern. Es kommt nicht andauernd vor, dass jemand mit einem selbst-gezeichneten Motiv kommt, um sich stechen zu lassen. Die meisten nehmen entweder was von den vorhandenen Sachen“ - er deutet auf die Ordner auf dem Couchtisch, „Oder sie reden mit uns über eine Idee, die wir dann umsetzen.“
„Wie viele Mitarbeiter haben Sie? Könnte einer ihrer Kollegen mit ihr zu tun gehabt haben?“
„Nein, im Moment bin ich alleine. Paula ist in der Babypause.“ Er grinst – fast sieht es so aus, als würde er mir zuzwinkern. „So ein Trommelbauch macht interessante Dinge mit Tätowierungen. Ich hoffe, sie macht Fotos.“
„Wie lange ist sie schon weg?“
„Zwei Monate – und sie kommt so schnell auch nicht wieder, fürchte ich.“ Er seufzt und wendet sich ab, um zu seinem Tresen zu gehen. Vermutlich nähert sich das Gespräch für ihn seinem Ende – als Kunde komme ich offenbar ja nicht in Frage.
Meine Gedanken schlagen Purzelbaum – wenn ich davon ausgehe, dass er lügt: Wie erwische ich ihn? Wie nagel ich ihn derart fest, dass er sich selbst ein Bein stellt?
Aber ich finde keine Lösung – als er mich freundlich zur Tür begleitet, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu verabschieden. Höflichkeit verkneife ich mir – das scheint ihn nicht zu stören. Auf dem Weg nach draußen greife ich mir eine der Visitenkarten des Ladens – als könnte ich ihm so drohen. Ich weiß, wo du wohnst. Obwohl ich mir bewusst bin, wie albern das ist, kann ich mir die Geste nicht verkneifen.
Wie zum Hohn klingelt die Glocke ein weiteres Mal, als er die Tür schließt. Ich stehe an meinem Bike und muss mich zusammenreißen, ihm vor lauter Frustration die Glastür nicht einfach wieder einzutreten.
Mein Handy klingelt.