Personen:
Jörg
Michael
Wolfram
Rudi
Julia
Karl
Berthold
Johanna
Keine Ratten oder sonstige Kleintiere
Die Bühne ist ein einfacher Raum, in dem in einem Kreis Stühle stehen, die von den Mitgliedern des Clubs besetzt sind. Der Kreis ist zum Publikum hin offen. Hinten in der Mitte steht Michael, der Leiter der heutigen Sitzung.
Michael:
Hallo, meine Lieben. Erneut eröffne ich den Club der anonymen Braucher. Und es wird euch bestimmt freuen, dass wir ein neues Mitglied haben. Stell dich doch bitte einmal vor.
[Jörg steht auf und Michael setzt sich.]
Jörg:
Hallo, ich bin Jörg, der größte Rattenzüchter aller Zeiten.
Die Gruppe:
Hallo Jörg, größter Rattenzüchter aller Zeiten.
Michael:
Jörg, sag uns doch bitte einmal, warum du heute hier bist.
Jörg:
Meine Frau Gisela zwingt mich dazu.
Michael:
Nein, ich meine, weswegen bist du hier?
Jörg:
Sie hat mir den Kamm für meine Ratten weggenommen und ich kriege ihn nur wieder, wenn ich herkomme.
Michael:
Und was denkst du darüber, Jörg?
Jörg:
Ich brauche einen zweiten Kamm!
Die Gruppe:
[Erkennend.]
Aha!
Jörg:
Was? Was ist los?
Michael:
Keine Sorge, Jörg. Du hast ganz offen zugegeben, dass du etwas brauchst. Das haben wir alle hier einmal gemacht. Nimm dir zum Beispiel Johanna da drüben. Früher glaubte sie felsenfest, ganz dringend Sauerstoff zu brauchen. Und schau, wie sehr sie sich verändert hat – ganz blau ist sie geworden. Oder Berthold, der dachte, dass er stets saubere Unterwäsche braucht. Wo ist Berthold?
Berthold:
[Seine Stimme kommt von außerhalb des Raumes.]
Ich bin im Nebenzimmer.
Michael:
Warum ist er im Nebenzimmer?
Julia:
Ich habe ihn dorthin geschafft, weil doch sonst keiner den Gestank aushält.
Michael:
Das hast du gut gemacht. Nun, Jörg, du siehst jedenfalls, dass du unter Gleichgesinnten bist. Da du aber noch neu bist, schlage ich vor, dass du heute erst einmal nur zuhörst. Rudi, du bist ja auch noch relativ neu, erzähle doch bitte einmal dein Problem.
Rudi:
[Er raucht eine Zigarette.]
Hallo, ich bin Rudi und Kettenraucher.
[Er zögert.]
Also…ich brauche mehr Intelligenz um ein B lesen zu können.
Michael:
Könntest du das bitte genauer erläutern.
Rudi:
Ich wollte eigentlich zu den Anonymen Rauchern.
Berthold:
Und warum wolltest du das?
Rudi:
Ich will keinen Lungenkrebs bekommen.
Die Gruppe:
[Scharf.]
Uh!
Rudi:
Was?
Michael:
Wollen zeugt von Verlangen und ist viel härter als einfach nur brauchen. Daher frage ich dich, ist Krebs denn wirklich so schlimm?
Rudi:
Natürlich ist Krebs schlimm – man kann davon sterben! Ich will nicht sterben!
Michael:
Rudi! Es ist okay, wenn du deine Probleme aussprichst, aber zügle dich bitte in deinem Ton! Wie lange bist du denn schon Kettenraucher?
Rudi:
Seit viertausendachthundertundzwölf Minuten.
Michael:
Aha, und du willst das einfach so für deine Brauchen-Gelüste aufgeben?
Rudi:
Ja.
Michael:
[Tadelnd.]
Rudi, du hast schon wieder gesagt, dass du etwas willst, also brauchst. Das musst du dir dringend abgewöhnen!
Rudi:
Ja, natürlich will ich mir das Rauchen abgewöhnen!
Michael:
Ich höre immer nur: Ich will, ich will, ich will, ich will, ich will. Rudi, achte dringend darauf, was du sagst!
Rudi:
Das ist aber gar nicht so leicht.
Wolfram:
Es ist nie leicht, von einer Sucht loszukommen. Ich zum Beispiel war früher der Meinung, immer die neuesten Nachrichten der Welt zu brauchen.
Jörg:
Und heute?
Wolfram:
Nun, es wäre zwar interessant gewesen zu wissen, wie die Amerikaner in Vietnam gewonnen hätten, aber…das war es mir wert.
Jörg:
Aber die Amerikaner haben nicht…
Wolfram:
[Er steckt sich die Finger in die Ohren und fängt laut an zu singen.]
Lalalalala ich höre keine Nachrichten lalalalalalalala….
Michael:
Jörg, bitte führe uns nicht in Versuchung. Rudi, sei unbesorgt, wir werden dir auf jeden Fall beistehen in diesem Kampf gegen das Aufhören des Rauchens.
Rudi:
Was?
Jörg:
[Er steht auf und redet ziemlich laut.]
Ich verlange Aufmerksamkeit!
[Die Gruppe japst entsetzt auf.]
Michael:
Du….verlangst?
Jörg:
Ja, schließlich bin ich der größte Rattenzüchter aller Zeiten und der beste Triangelspieler der Welt. Also steht mir Aufmerksamkeit zu!
Michael:
Meine Güte, es steht ja schlimmer um dich, als ich dachte.
Karl:
Weißt du Jörg, so war ich auch mal.
Jörg:
Was? Du warst mal Rattenzüchter und Triangelspieler?
Karl:
Nein, anonymer Weltstar. Hab vier Goldmedaillen geholt.
Jörg:
Und was brauchtest du?
Karl:
Socken. Dicke, warme Wollsocken. Selbst gestrickt. Aber niemand hatte welche für mich. Also habe ich angefangen, selbst zu stricken. Jeden Tag neunundzwanzig Paare. Überall habe ich nach Wolle verlangt. Aber niemand gibt einem Weltstar mit vier Goldmedaillen Aufmerksamkeit. Es war furchtbar.
[Er vergräbt das Gesicht in den Händen und fängt an zu weinen.]
Michael:
Jörg, Karl hatte ein wirklich schlimmes Leben. Schließlich wollte er nur noch leben, weil er gerne wissen wollte, was die Zukunft bringt. So haben wir ihn aufgenommen und seine Sucht bekämpft.
Jörg:
Und wie?
Wolfram:
Wir haben ihn erschossen.
Jörg:
[Er schaut langsam zu Karl.]
Ihr…habt ihn erschossen?
Michael:
Ganz genau. Direkt zwischen die Augen. Aber glaube uns, wenn wir sagen, dass wir das nicht wollten.
Jörg:
Seid ihr sicher, dass das notwendig war?
Julia:
Nein, er brauchte das nicht.
Karl:
Was ein zusätzlicher Grund war.
Michael:
Jörg, wir wissen genau, was wir tun und werden alles daran setzen, dass du kein Verlangen mehr nach Aufmerksamkeit hast.
Berthold:
Oder Rattenzüchter sein willst.
Michael:
Ganz richtig. Das Beste am Anfang wird es wohl sein, dass wir deine Ratten erschießen. Wie viel Munition benötigt man dazu?
Jörg:
[Laut.]
Keine meiner Ratten wird erschossen!
Karl:
Wir können sie auch ertränken, wenn dir das lieber ist.
Jörg:
Ich werde nicht zulassen, dass ihr meinen Schützlingen Schaden zufügt! Als größter Rattenzüchter aller Zeiten ist es meine heilige Pflicht, sie zu schützen und zu alles Unheil von ihnen abzuwenden!
Michael:
Jörg, du stehst nicht richtig zu deinem Problem. Und es besteht auch kein Grund zum Schreien.
Jörg:
Ich schreie wann ich will, wo ich will, wie ich will, warum ich will und was ich will!
Julia:
Er will so viel auf einmal – das zeigt die wahre Sucht!
Rudi:
Leute, er ist doch halt noch neu.
Jörg:
Du brauchst gar nicht für mich Partei ergreifen, denn ich bin großartig genug, mich selbst zu verteidigen!
Rudi:
[Er rennt weinend von der Bühne.]
Er hat gesagt ich brauche etwas!
Michael:
Jetzt hast du ihn beleidigt, entschuldige dich bitte.
Jörg:
Nein, ich lasse mir von euch Knallchargen nichts sagen!
Michael:
Du sollst dich bei Rudi entschuldigen!
Jörg:
Vergiss es. Er kann froh sein, dass er von euch Irren weg ist!
Michael:
[Wütend.]
Ich verlange, dass du dich sofort bei Rudi entschuldigst!
[Er schlägt sich die Hände entsetzt vor den Mund.]
Wolfram:
Michael, was hast du gesagt?
Michael:
[Er rennt schreiend von der Bühne.]
Oh Gott, ein Rückfall!
Jörg:
Merkt ihr eigentlich, dass ihr alle einen an der Waffel habt? Jeder braucht doch mal was im Leben. Ich zum Beispiel brauche einen Stammtisch für meinen Rattenstammtisch.
Karl:
Er kann es mit dem Brauchen einfach nicht lassen! Mir reicht dieser Mensch!
[Ab.]
Jörg:
Ich habe doch diesmal gar nichts gemacht.
Wolfram:
Weißt du…manchmal liege ich nachts in meinem Bett und denke, dass ich seit nunmehr sieben Monaten Klopapier brauche.
Jörg:
Und warum kaufst du keins?
Wolfram:
Weil ich seit vier Monaten nicht mehr aufs Klo zu gehen brauchte.
Julia:
Ihr seid ja ekelhaft!
[Ab.]
Wolfram:
Ich denke, man sollte die Brauchen-Regel aufweichen.
Jörg:
Nur Brauchen im Sinne von verwendetem Benötigen ist Brauchen im Gegensinne der Anonymen Braucher.
Wolfram:
Das war ein tolles Schlusswort.
Jörg:
Ich weiß, ich bin großartig.
Berthold:
Ist noch wer da?
[Licht aus, Ende.]