Der authentische Kurzkrimi
Ingo saß an seinem Schreibtisch und starrte verdrossen auf leeres Papier. Seit Wochen hemmte ihn nun schon die verflixte Schreibblockade und der Redakteur drängte ihn, doch endlich wieder einen Text zu schicken, am besten einen Krimi. Tat er dies nicht bald, wusste Ingo, war er raus aus dem Geschäft, von dem er mehr schlecht als recht, aber immerhin lebte.
„Du musst authentisch schreiben!“ hatte der Redakteur verlangt. Verzweifelt kaute Ingo auf einem Bleistiftstummel herum. Dann beschloss er, noch einen Spaziergang zu unternehmen; vielleicht fiel ihm draußen etwas ein.
Der Tag war noch einmal sommerlich heiß gewesen, doch gegen Abend hatte Regen eingesetzt. Der Asphalt dampfte. Es roch nach Staub, Benzin und Teer. Ingo mied das Kneipenviertel, denn sein Geldbeutel war leer. Also steuerte er die ruhigen Wohnstraßen an. Hinter einigen Fenstern brannte Licht oder der blaue Schein von Fernsehgeräten schimmerte durch die Gardinen. Kein Mensch war noch auf der Straße.
Da fragte Ingo sich, ob – wenn doch noch ein Mensch des Weges käme und er ihn einfach umbrächte – je ein Kriminalist diesen Mord aufklären könnte. Die Chancen dafür wären doch gleich Null! Wie die Personifizierung des Gedankens bog ein Mann um die Straßenecke und näherte sich Ingo. Er führte einen Schoßhund Gassi.
Als er Ingo fast erreicht hatte, lüpfte er den Hut und grüßte. Da ergriff Ingo die Gelegenheit: er packte den Mann am Kinn und zog mit der anderen Hand dessen Kopf mit einem jähen Ruck zu sich. Auf diese Weise brach er ihm das Genick. Es gab nur einen dumpfen Schlag, als der Unbekannte auf den Gehweg fiel. Das Hündchen kläffte, schnupperte an seinem toten Herrchen und lief zurück, woher es gekommen war.
Ingo setzte sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung und zwang sich, nicht zu schnell zu gehen, obwohl es ihn mit Macht nach Hause zog, an seinen Schreibtisch. Jetzt würde er authentisch schreiben können! Das zu erwartende Honorar brauchte er dringend. Um nicht gesehen zu werden, mied er Bus und Straßenbahn und ging den ganzen Weg zu Fuß. So leise wir nur möglich schloss er die Haustür auf und schlich sich durch das dunkle Treppenhaus, damit seine Nachbarn ihn nicht hörten.
Entschlossen setzte er sich an den Schreibtisch, um festzustellen, dass seine Hände zitterten und er den Stift nicht halten konnte. Zum Glück hatte er noch zwei Flaschen Wein im Kühlschrank, die er leerte. Dabei brachte er nicht ein einziges Wort zu Papier.
Am nächsten Morgen brummte sein Kopf. Er ging ins Bad, von dort auf den Flur – und da fiel sein Blick auf die Schuhe, die er am Vorabend getragen hatte. „Tatortspuren!“ entfuhr es ihm. Die Schuhe mussten unbedingt entsorgt werden. Schade darum, denn sie waren noch recht gut, doch er konnte die verräterischen Stücke unmöglich aufbewahren. Also packte er sie in eine Plastiktüte und stieg in den Hof hinunter.
Als er den Deckel einer Mülltonne hochgeklappt hatte, bewegte sich hinter dem Fenster der Parterrewohnung der Vorhang. Da erkannte Ingo, dass er im Begriff war, einen schweren Fehler zu begehen. Die Tatschuhe durften auf keinen Fall auffindbar sein.
Ingo wanderte mit seiner Plastiktüte durch die halbe Stadt zum Fluss. Wasser tilgt jegliche Spuren; sowohl Tatortspuren wie auch Körperspuren – Fußschweiß, Hautpartikel und dergleichen. Erleichtert warf Ingo die Tüte mit den Schuhen in den Fluss. Nun konnte er sich sicher fühlen.
Auf dem Weg nach Hause kaufte er sich noch die Tageszeitung, die er in einem Stehcafé hastig durchblätterte. Er fand keine Meldung über sein nächtliches Verbrechen. Nachdem er sich hierüber lange genug gewundert hatte, dämmerte ihm, dass er die Tat ja auch erst Stunden nach Redaktionsschluss begangen hatte. Erst das Regionalfernsehen berichtete am frühen Abend. Die Bevölkerung wurde um Hinweise gebeten.
Ingo setzte sich an seinen Schreibtisch. Einleitend schrieb er einen jämmerlichen Satz über das Wetter. Dann brach er ab. Ihm dämmerte, dass er im Begriff war, ein Geständnis zu Papier zu bringen. Die Geschichte durfte doch auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen – obwohl sie doch so authentisch war! Gerade deshalb nicht. So dumm konnte man doch gar nicht sein! Kurz vor Ladenschluss kaufte sich Ingo von seinem letzten Geld noch ein paar Flaschen Wein und Schnaps.
Die Schreibblockade löste sich nicht auf. Im Gegenteil. Je angestrengter Ingo über eine unverfängliche Rahmenhandlung seiner Geschichte nachdachte, desto blödere Ideen hatte er. Den Tatort vom Rhein an die Elbe zu verlegen, war naiv; eine Frau als Täterin auftreten zu lassen, nicht minder.
Nur das, was in der Zeitung gestanden hatte, konnte als Ausgangspunkt für eine – im übrigen erfundene – Geschichte dienen. Die dann aber wieder nicht authentisch wäre! Ingo schleuderte den Bleistiftstummel aus dem Fenster.
Ein paar Wochen später sah Ingo ein, dass er zum Sozialamt gehen musste. Etwas anderes blieb im nicht übrig. Der Redakteur meldete sich nicht mehr. Die Kripo erschien auch nicht. Ingo konnte ja nicht wissen, dass die Ermittlungen längst ruhten. Er befürchtete noch immer, sich für seine Tat verantworten zu müssen.
Das Ende des Winters nahte schon. Die ersten Blüten der Schneeglöckchen drängten ans Licht. Ingo hatte dafür keinen Sinn mehr. Er betrank sich jeden Tag und verließ das Haus nur noch, um sich Alkoholvorräte zu besorgen.
Sein Schreibtisch, auf dem seit der Tatnacht das unbeschriebene Papier lag, erinnerte ihn Tag für Tag an den Mord, den er begangen hatte. Ingo ahnte mittlerweile, dass er die Fähigkeit, zu schreiben, verloren hatte.