Die Luft war kristallklar. Es roch nach Frost. Die Landschaft sah gezuckert aus, obwohl noch kein Schnee gefallen war. Raureif zierte Wälder und Wiesen.
Theoderich und Bärbel waren unterwegs, um einen Weihnachtsbaum zu stehlen. Der Förster hatte ihnen nicht erlaubt, einen Baum zu schlagen. Sie taten es trotzdem. Weithin hallten die Schläge, als Theoderich die Keile in den Stamm trieb. Auch die Säge gab laute Geräusche von sich, als sie sich in das Holz fraß.
Der Förster notierte das Kennzeichen des alten Kombis, der auf dem Waldweg parkte, und wartete ab. Zwei Gestalten näherten sich schon bald. Sie sahen den Förster bei ihrem Auto stehen.
„Du! Der hat uns beobachtet!“ japste der kleinere der beiden Männer.
„Dann sorgen wir dafür, dass er uns nicht verpfeifen kann!“ erwiderte der andere und packte seinen Spaten fester.
Ein paar Minuten später war der Förster tot. Erschlagen. Aus dem Wald ertönte immer noch das Geräusch der Säge.
„Horch doch mal!“ sagte der Kleinere, „da sind doch Waldarbeiter in der Nähe!“
„Waldarbeiter mitten im Winter? Ausgeschlossen!“ meinte der andere.
„Lass und trotzdem abhauen!“
Die zwei Gestalten setzten sich in ihren alten Kombi und ließen den toten Förster einfach liegen.
Als Theoderich und Bärbel die Fichte aus dem Wald zerrten, sahen sie den Förster auf dem Waldweg in einer Blutlache liegen. Theoderich eilte auf ihn zu und tastete nach der Halsschlagader. Dann drehte er sich um und rief erschrocken: „Du! Der ist tot!“
„Um Gottes Willen!“ entfuhr es Bärbel. „Wir müssen die Polizei rufen!“
„Und was machen wir mit dem Weihnachtsbaum?“
„Mitnehmen!“ entschied Bärbel. „Wir sagen, der Förster hat es uns erlaubt.“
Sie sagten, der Förster habe auf sie gewartet. Als sie mit dem Baum aus dem Wald gekommen waren, habe er tot auf dem Waldweg gelegen. Nein, sie hatten nichts gesehen und auch nichts gehört.
***
Am großen Tisch saßen die Großeltern mit Bärbel und Theoderich. Die Kinder aßen am Campingtisch, der für sie aus der Garage geholt worden war.
„Ihr habt den Baum ja wieder so entzückend geschmückt!“ bemerkte die Großmama. Bärbel lief dunkelrot an.
„Ja, Mutter,“ erwiderte Theoderich, „wir haben ihn dies Jahr sogar selbst gefällt!“ Bärbel trat ihm gegen das Schienbein.
Der Opa legte den Schenkel der Weihnachtsgans frei und befand: „hier ist sie ja noch blutig!“ Bärbel ließ ihren Bissen aus dem Mund fallen.
„Habt ihr gelesen, dass ein Förster erschlagen worden ist?“ plauderte die Oma munter darauf los. „Das waren bestimmt Wilddiebe!“
„Oder Baumdiebe!“ rief ein Kind dazwischen.
Theoderich legte das Besteck beiseite. „Es ist Weihnachten!“ rief er. Davon völlig unbeeindruckt, erkundigte sich der Opa listig: „Was hat er denn gekostet, euer Baum?“
„Wir haben ihn gestohlen, Vater!“ antwortete Theoderich schlagfertig, „und anschließend haben wir den Förster damit umgelegt!“
„Uiii!“ kreischte ein Kind. Jetzt wurde es ja richtig spannend.
Bärbel drehte sich zu den Kindern um und sagte streng: „Wenn ihr nicht still seid, geht ihr ins Bett!“
Die Kinder waren nicht zu bändigen. Sie wussten ganz genau, dass sie an Weihnachten aufbleiben durften, so lange Oma und Opa zu Besuch da waren.
Auch der Opa war nicht zu bremsen. „Den Förster wegen einer Fichte zu erschlagen, finde ich nicht angemessen,“ nuschelte er mit vollem Mund.
„Es ist gar nicht so lange her, dass eine alte Frau wegen fünf Euro ermordet worden ist,“ erinnerte die Oma.
„Möchtest du noch ein Stück von der Gans?“ fragte Bärbel, um das Thema abzubrechen.
„Nein, danke,“ wehrte der Opa ab, „die ist mir heuer zu blutig!“ Dabei lachte er gackernd über seinen eigenen Scherz. Augenblicklich sah Bärbel den Förster vor sich, der in seinem Blut gelegen hatte. Auch Theoderich verließ der Appetit.
Die Kinder hatten inzwischen das Adventsgesteck zerlegt und spielten mit den Zweigen „Förster erschlagen“. Der Kleinste musste den Förster spielen und bezog Hiebe, die er laut kreischend einsteckte, wobei sich die trockenen Nadeln überall verteilten.
„Hört sofort auf!“ schrie Bärbel.
„Lass sie doch!“ verteidigte die Oma ihre Enkel, „so ist das halt mit drei Jungen.“ Dann fügte sie noch hinzu: „Ich hatte ja nur den einen, aber das war schon schlimm genug.“ Dabei tätschelte sie Theoderichs Arm und zwinkerte ihm zu.
„Mutter, bitte!“ wehrte sich Theoderich, wobei es seiner Aufmerksamkeit entging, dass Bärbel völlig erschöpft in sich zusammen sank.
Der Kleinste, der den Förster spielte, stellte nun dessen Tod dar, indem er sich auf den Teppich warf, ein paar Mal zappelte und sich dann nicht mehr rührte. Einer seiner beiden Brüder schüttete ein wenig Rotwein über ihn und rief dabei: „Blut! Blut!“
Bärbel verlor die Nerven. „Es war deine Idee, den Baum zu stehlen! Als ob wir uns keinen Baum leisten könnten, du Idiot!“ schrie sie. Dabei kippte sie ihrem Mann ihr volles Glas Rotwein ins Gesicht. Sein weißes Hemd färbte sich rubinrot.
„Also wart ihr es doch!“ schlussfolgerte der Opa und lachte wieder gackernd.
Die Oma gab sich konsterniert. Sie erhob sich und bemerkte höflich: „Die Gans war sehr, sehr köstlich!“ Dann packte sie den Opa an einem Ärmel und zerrte ihn hinaus. Theoderich gelang es, seine Eltern noch zur Tür zu bringen.
Bärbel riss sofort allen Schmuck von dem vermaledeiten Unglücksbaum und befahl den Kindern, sofort in ihre Betten zu verschwinden. Die drei Jungen wagten keinerlei Protest.
Verdattert starrte Theoderich auf den von seinem Schmuck befreiten Baum. „Ab damit!“ bestimmte Bärbel. „Ab damit in die Garage!“
Theoderich schaffte den frischen Baum hinaus und dachte bei sich: Der hätte gut bis Lichtmeß gehalten!