Begegnung

Text zum Thema Alltag

von  unangepasste

Die Welt greift nach den Füßen.

Ich versuchte, sie zu finden, an einem Wintertag, an dem sich eine Schneeschicht über die Welt legte, eine Schicht, die verschwinden ließ und verschluckte und der Stadt eine ungewöhnliche Leichtigkeit verlieh. Als Grau und Schmutz der Straßen verdeckt lagen und der Himmel weiß war, heller als sonst, da kauerte etwas – da kauerte ein Wesen an einer Straßenecke.
Ich beeilte mich, ich packte es am Ärmel, zu oft schon war es meinem Blick entflohen. Drei Pullover trug es übereinander, als müsste es sich vor etwas schützen; wovor, das sei doch gleich. Ich war überrascht, es anzutreffen. Fremd geworden waren wir uns nach all den Jahren. Es wand sich unter meiner Berührung und wollte sich meinem Griff entziehen.
Ich fragte, ob diese Stadt, die nun aussah wie jede andere, weiß und eingehüllt und nicht mehr dreckig, ob diese Häuser, Straßen, diese kargen Bäume ihre Heimat sind. Sie zögerte. Sie sprach davon, wie etwas da draußen an unseren Füßen zerrt und unseren Willen ganz klein macht. Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte.
Zu Hause, das war einmal am anderen Ende einer Straße, dort, wo der Wald begann, das Aufschlagen der Tennisbälle durch die Hecke drang und zwei Eltern und vier Geschwister wohnten, dann, später, eine böse Stiefmutter, und auf einmal war es weit weg, das Zuhause, vom Besen der Zeit erfasst. Später begann das Leben in der anderen Stadt, die auch keine Heimat war – einer Stadt, die erst im Schneegewand an Hässlichkeit verlor.
Das Mädchen erzählte von einem zerbrochenen Gefäß, von Scherben, Splittern, von großen Resten, die noch ein unversehrtes Muster schmückte. Doch niemals würden all die Teile wieder eins. Es wisse nicht, ob es wieder umziehen wolle, dieser oder jener Ort, der eine oder der andere Splitter. Einerlei. Heimatbrocken, dachte ich und nickte, Heimatbrocken ist das, was bleibt.

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Kommentare zu diesem Text


 Rudolf (22.04.11)
Cooler Text! Die Welt greift nach den Füßen, Heimatbrocken. Gute Sprache eindringlich gesetzt. Gerne gelesen. Danke.

 Dieter Wal (26.07.13)
"Das Geschöpf erzählte von einem zerbrochenen Gefäß, von Scherben, Splittern, von großen Resten, die noch ein unversehrtes Muster schmückte. Doch niemals würden all die Teile wieder eins. Es wisse nicht, ob es wieder umziehen wolle, dieser oder jener Ort, der eine oder der andere Splitter. Einerlei. Heimatbrocken, dachte ich und nickte, Heimatbrocken ist das, was bleibt."

Seit ich Hunderte Tonscherben im Sand der Pegnitz bei Nürnberg zufällig entdeckte, hab ich ein positives Verhältnis zu Scherben. Fragmente im Leben sind sinnvoll. Nicht verblasste Glasuren auf ihren Außenseiten. Du kannst dir ihre ehemaligen Gefäße vorstellen. Verschiedenste Materialien und Dichten. Bewahre ein paar davon in Vitrinen auf. Sie sind mir ein Stück Heimat.

Einen Tag vor dem Fund schrieb ich ein Scherbengedicht.

 unangepasste meinte dazu am 26.07.13:
Gibt es das Scherbengedicht auch hier zu lesen? Bin neugierig

Stimme dir aus heutiger Sicht weitgehend zu, dass Fragmente nicht unbedingt negativ sein müssen.

 Dieter Wal antwortete darauf am 26.07.13:
 Das da. Es enthält keine Scherbe, aber wurde von einer inspiriert. Siehe Anmerkung.

 Dieter Wal schrieb daraufhin am 22.08.18:
Die rhythmische Sprachgestaltung ist optimal gelungen. Die Schreibweise wirkt wie gesprochene Sprache, das Erzählen hat dadurch Vitalität. Eine stilistisch verschiedene, deine auf ihre Weise bildschöne, als würde beim Schreiben laut gelesen, gestaltete Sprache fand Christoph Ransmayr in Die Letzte Welt, Roman 1988.

 unangepasste äußerte darauf am 22.08.18:
Danke. Ich habe den Text noch etwas überarbeitet, bevor ich ihn wieder entsperrt habe. Ich hoffe, jetzt ist der Sprachfluss besser.

 Dieter Wal ergänzte dazu am 04.09.18:
Das ist er.
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