Lincoln Park - Teil 2

Kurzgeschichte zum Thema Begegnung

von  MrDurden

Für gewöhnlich breite ich mein Leben nicht vor den Füßen jeder flüchtigen Kneipenbekanntschaft aus. Wahrscheinlich bist auch du nur einer von all den charismatischen Interesseheuchlern, die mich Tag für Tag in der Hoffnung auf sonst was anquatschen. Doch heute Nacht ist das okay.

Bis vor etwa drei Jahren war mein Leben ein Detroiter Häufchen Elend wie es im Buche steht. Kein Schulabschluss, keine Arbeit, niemanden, den man als einen wirklichen Freund bezeichnen könnte und, nachdem ich von Zuhause weggelaufen bin, auch keine Familie mehr. Meine Mutter starb als ich 9 Jahre alt war und mein Vater liebte alten, rauchigen Scotch noch um einiges inniger als du. Über die Dinge, die er mir angetan hat, wenn ich von der Schule nach Hause kam, habe ich lange nicht nachgedacht. Und irgendwann schaffte ich es, wegzulaufen.

Danach verbrachte ich einige Jahre auf der Straße. Motels, schmierige Absteigen, Privatapartments. Womit ich mein Geld verdient habe, kannst du dir sicher vorstellen. Manche meiner Kunden waren nett und großzügig. Vielleicht nicht respektvoll bei dem, was sie mit mir anstellten, doch zumindest hatte ich in diesen Nächten etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf. Andere hatten da schlechtere Manieren. Dass es Menschen gibt, die ihresgleichen gerne Schmerzen zufügen, sie leiden sehen wollen, muss ich dir wohl nicht erzählen. Und für hundert Dollar ließ ich sie mich eine Stunde lang durch die Hölle schicken.

Nach einer gefühlten Ewigkeit und Hunderten dieser ungewissen Nächte kam ich eines Abends in diese Kneipe und setzte mich an genau diesen Platz am Tresen. Auf deinem Hocker saß ein junger Kerl, etwas älter als ich damals war. Er hatte diesen südländischen Touch, kurze, schwarze Haare und keine Begleitung. Sein Name war David und wahrscheinlich klingt es kitschig, aber der gelassene Klang seiner Stimme und sein Blick weckten mein Vertrauen. Und in der Hoffnung, mir ein paar Dollar verdienen zu können, begleitete ich ihn nach Hause. Cleveland Avenue in Lincoln Park. Eine kleine, gemütliche Wohnung, finanziert durch den Verkauf von chemischen und pflanzlichen Drogen aller Art. Später erzählte er mir von sich und seinem „verkorksten Leben“, wie er es nannte. Von seinem zerbrochenen Elternhaus, seinem Schulabbruch und von unzähligen Entlassungen bei allen möglichen Firmen.

Wir kamen uns näher, als es für Freier und Hure gut ist, und irgendwann verbrachten wir jeden Abend gemeinsam. Unter der Bedingung, dieses Leben an der Straße aufzugeben, nahm er mich bei sich auf. David war ein guter Mensch. Er war nie gierig und tat lediglich was nötig war, um dieses bescheidene bisschen Leben aufrecht zu erhalten, das wir teilten. Und endlich hatte das Weglaufen ein Ende.

Seitdem sind drei Jahre vergangen. Wir hatten nie Perspektiven, haben uns niemals große Ziele gesetzt und damit waren wir glücklich. Bis David vor etwa vier Wochen einen Großauftrag von einigen wirklich unangenehmen Leuten bekam. Wir hatten seit einiger Zeit finanziellen Notstand und den versprochenen Anteil am Gewinn konnte er nicht ablehnen. Die Übergabe verlief nach Plan, doch was wir nicht wussten war, dass Davids neuer Geschäftspartner gerne Menschen aus dem Weg räumte, die ihn eventuell bei einer Gegenüberstellung hätten identifizieren können. Die Wochen vergingen und das Geld ließ auf sich warten. Wir stritten rund um die Uhr und ich versuchte vehement ihn dazu zu bewegen, die Stadt zu verlassen. Doch er war überzeugt, das Geld würde kommen.

Heute Morgen fand ich zwei Kugeln vom Kaliber 9mm in unserem Briefkasten. David war seit Tagen nicht ansprechbar. Er hatte nie etwas von seiner Ware genommen, doch unser finanzieller Engpass und unsere Angst vor seinem Auftraggeber waren zuviel für ihn. Als er dann heute Abend im Delirium mit einer Rasierklinge auf mich losging, tat ich das, was ich immer getan hatte. Ich lief davon. Und seitdem sitze ich hier und genehmige mir einen Martini nach dem anderen. Es sind wohl eher Menschen wie ich, die man um 23:00 Uhr in einer Bar in Melvindale zwischen Scotch und Urinerdnüssen trifft.

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