Mit deinen Augen

Text zum Thema Begegnung

von  MrDurden

Heute Nachmittag kreuzte in einer Fußgängerzone ein blinder Mann meinen Weg. Ich schätze ihn auf ungefähr fünfzig Jahre. Mit seiner linken Hand in der Jackentasche ertastete er mit einem Stock aus weißem Kunststoff während dem Gehen die Beschaffenheit des Bürgersteigs vor sich. Er trug weder eine Brille noch irgendetwas anderes, um das matte Weiß zu verbergen, das die Farbe seiner Augen trübte. Der Tag war regnerisch und grau und niemand außer dem Blinden und mir war in den nassen, vom Regen dunkel gefärbten Straßen unterwegs. Ich weiß, es ist falsch und ich weiß, es ist dumm, aber ich hatte Mitleid mit dem Mann, der, ohne etwas sehen zu können, mit ungelenkten Schritten durch den Regen stapfte. Erst als er näher kam, konnte ich ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen erkennen. Unwillkürlich wurden meine Schritte langsamer und als wir aneinander vorbeigingen, blickte ich ihm verlegen über meine Schulter hinterher. Im selben Moment hörte ich ein leises Lachen und etwas, das er in den Kragen seines schwarzen Mantels murmelte.

„Wenn du denkst, du könntest sehen, bist du blinder als ich.“

Es ist kurz vor Mitternacht. Mit weit geöffneten Augen liege ich auf meiner Schlafcouch und starre an die Dachschräge meiner Einzimmerwohnung. Seit heute Nachmittag geht mir der blinde Mann nicht mehr aus den Gedanken. Es ist seltsam. Sobald es anfängt zu regnen, gehen alle Menschen automatisch schneller, egal, welche Strecke sie noch vor sich haben. Statt uns damit abzufinden, nass zu werden, rennen wir umher, verschwenden unsere Kraft indem wir uns über das Unausweichliche aufregen. Statt mit einem Lächeln zu akzeptieren, was mit uns geschieht, zappeln und strampeln wir uns ab, in der irrationalen Hoffnung, nicht ganz so nass unser Ziel zu erreichen. Wir sind blind. Und ein Mann, der nichts sieht, spaziert seelenruhig und zufrieden durch eisigen Dezemberregen.

Und so liege ich da, schließe meine Augen und stelle mir vor, ich könne nicht sehen. Ich lausche jedem noch so unscheinbaren Geräusch, versuche Entfernungen abzuschätzen und Gegenstände zu ertasten. Doch es ist nicht dasselbe, denn ich weiß, ich kann meine Augen jederzeit öffnen. Der Mann hat diese Freiheit nicht und doch besitzt er etwas, das nur die wenigsten von uns haben. Die Freiheit, zu sehen, was wichtig und was unwichtig ist.

Ich öffne meine Augen. Es ist so dunkel in diesem Zimmer, dass ich rein gar nichts erkennen kann. Und ich weiß, dass es wohl nichts schwierigeres gibt, als mit den Augen eines Anderen zu sehen.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (04.12.11)
Hallo MrDurden,

das ist eine schöne, leise Geschichte über eine Begegnung und ein gedankliches Selbstexperiment.

Der Einstieg ins Thema gefällt mir besonders gut. Ich kann mir die Situation lebhaft vorstellen und und finde die Aussage des Blinden
Wenn du denkst, du könntest sehen, bist du blinder als ich.
an dieser Stelle markant und spannend. Die "wir"-Formulierungen im philosophierenden Mittelteil nehmen der Geschichte für mein Empfinden viel von ihrer Unmittelbarkeit, da gefiele mir eine konsequente "Ich"-Form besser. Und dann bin ich inhaltlich natürlich ein bisschen gegen das Vergleichende, das überspitzt zu dem Ergebnis führt: "Bist du blind, siehst du besser". Kann sein, muss aber nicht.

Statt uns damit abzufinden, nass zu werden, rennen wir umher, verschwenden unsere Kraft indem wir uns über das Unausweichliche aufregen.
Und wenn es so wäre, dass das Unausweichliche gerade darin besteht, dass wir uns über das Unausweichliche aufregen? Dann nämlich erschöpfte sich die Akzeptanz dessen, was ist, nicht in der Vorstellung, ein Ereignis wie z.B. hier den Regenschauer mit einem Lächeln akzeptieren zu 'sollen' sondern umfasste als Realität auch den inneren Widerstand gegen dieses Ereignis. Der mir im übrigen eine zutiefst menschliche Haltung zu sein scheint.

So sieht das aus meinen Augen betrachtet aus. Vielleicht hätte ich mehr aus deinen gucken sollen, die Botschaft des Textes berücksichtigend. Aber es ging gerade nicht.

Liebe Grüße, princess

 MrDurden meinte dazu am 04.12.11:
Vielen Dank für deine Vorschläge und Kritik Princess. An dieser Stelle sag ich mal dazu, dass ich mir die Begegnung nur ausgedacht hab In Wirklichkeit habe ich jemanden kennengelernt, der komplett unfähig war, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Da hab ich mir gedacht, schreib ich mal etwas zu dem Thema. Zugegeben, der Text ist nicht wirklich ausgereift, da hätte ich vieles besser machen können. Danke, dass du dich so damit beschäftigt hast Grüße, David!

 Lala (04.12.11)
Hallo Mr. Durden,

die Idee finde ich gut, die Umsetzung angemessen. Aber einige Stellen empfand noch zu akzentuiert. Manches würde ich lieber gestrichen sehen, weil es schon deutlich genug geworden war. Interessiert gelesen.

Lala

 MrDurden antwortete darauf am 04.12.11:
Danke für deine Meinung, dem kann ich mich nur anschließen. Gruß, David.
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