Kain und Abel (Soll ich meines Bruders Hüter sein?)
Predigt zum Thema Beziehung
von tulpenrot
Predigt zu 1. Mose 4, 1-16
Anton und Ronald sind Schulanfänger. Ihre erste Schulwoche ist angebrochen. Voller Neugier und Eifer machen sie im Unterricht mit und wenn der Lehrer fragt, gehen ihre Finger hoch – sie wollen was sagen – ganz gleich ob richtig oder falsch. Sie sind begeistert, sie wollen zeigen, was sie können. Hier!! Ich!!
Später verliert sich das. Das ist bei den meisten Schülern so. Eine träge Schülermasse quält sich - und den Lehrer - durch den Schulalltag.
Vor allem wenn es um peinliche Fragen geht - z.B. wer hat das Papier auf dem Flur fallen lassen? Wer hat dem Anton den Anorak weggenommen - dann befällt die sonst so rege Meute ein tiefes Schweigen. Niemand war es. Warum? Weil man ja dann zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Weil es peinlich ist. Weil man sich nicht blamieren will. Weil man die Strafe fürchtet. Dabei hat der Unfug doch eigentlich ein bisschen Spaß gemacht, den Anton zu ärgern ist lustig und der Nervenkitzel, ob man nun erwischt wird oder nicht, tut sein Übriges.
Ein geübter Lehrerblick aber durchschaut schnell die Situation. Und liegt meist richtig. „Ronald, wo ist Antons Anorak?“ Und Ronald streitet alles heftig ab. „Was kümmert mich Antons Anorak? Soll der doch selber auf seine Sachen aufpassen. Und außerdem haben Sie den Klassenraum nicht abgeschlossen. Sie sind schuld, dass der Anorak weggekommen ist.“
Diese in unseren Augen harmlose Geschichte steht natürlich nicht in der Bibel. Und Anton und Ronald sind keine biblischen Namen. Aber Abel und Kain sind biblische Namen. Abel bedeutet: „Hauch“ oder „Nichtigkeit“. Káin bedeutet: „Erwerb, Erworbenes, Gewinn“. Doch kein modernes Elternpaar würde seinen Jungen Abel nennen, weil er nicht stark klingt, oder Kain, weil er ein Mörder wurde. Anton bedeutet „preiswürdig, unschätzbar, unverkäuflich“, Ronald bedeutet „der die Kraft der Götter hat“. Das hört sich schon besser an.
Doch Kain und Ronald haben etwas gemeinsam. Sie sind Täter und Opfer zugleich. In unseren Augen sind sie Täter, in ihren eigenen Augen sind sie Opfer. Das ist oft so im Leben. Da wird manches aus einem verzerrten Blickwinkel zum eigenen Vorteil gesehen. Es ist schwierig, das eigene Fehl-Verhalten vorbehaltlos kritisch einzuschätzen und sich zu stellen. Lieber ist man damit beschäftigt, sich zu verteidigen, die Schuld wegzuschieben, zu leugnen oder zu verharmlosen. Zum deutlichen Bekenntnis gehört Mut. Es ist ein Akt der Demut, des Sich-klein-machens, des Sich-nicht-mehr-stark-fühlens, und dann der Wahrheit ins Gesicht schauen. Sich hinstellen: Hier!!! Ich!!!
Kain und Abel brachten Gott ihre Opfergaben dar. Es waren Erstlingsopfer. Erstlingsopfer haben im gesamten Alten Orient eine große Bedeutung: die erste Frucht eines Baumes und der erste Wurf eines Tieres werden als Dank für die erwiesene Fruchtbarkeit und als Bitte für weiteren Segen geopfert.
In unserem Text heißt es nur: „Gott schaute wohlgefällig auf Abel. Er schaute auch wohlgefällig auf sein Opfer.“ Gottes Blick ist nicht getrübt. Er hat den Durchblick, er durchschaut die Motive, die Haltung, die Echtheit oder Unechtheit der Opfergabe, die Herzenshaltung. Es gab einen Unterschied zwischen den beiden Opfernden. Gott sieht den Unterschied. Was Abel tut, gefällt ihm. Auf Kains Opfer aber sah er nicht.
„Wie kam es, dass Abels Opfer Gott besser gefiel als das von Kain?“ so fragen wir und so fragt auch der Schreiber des Hebräerbriefes. Wir lesen die Antwort: „Der Grund dafür war Abels Glaube. Weil Abel Gott vertraute, nahm Gott seine Gaben an und stellte ihm damit das Zeugnis aus, dass er vor ihm bestehen konnte. Und durch seinen Glauben redet Abel heute noch zu uns, obwohl er längst gestorben ist.“
Durch Abel redet Gott zu uns über den Glauben. Es kommt also nicht darauf an, was wir tun, wie viel oder was wir opfern, sondern in welcher Haltung Gott gegenüber wir etwas tun. Es kommt auf den Glauben an, auf das Vertrauen zu Gott. Das kann Gott segnen, wie er es bei Abel segnete.
Kain hatte sich mit seinem Opfer anscheinend Erfolg versprochen. „Do ut des“ – „ich gebe, damit du gibst“. Das war berechnend. Mehr nicht. Das führte jedoch eben gerade nicht zum Erfolg. Abel dagegen hat vielleicht eher an die Beziehung zu Gott gedacht bei seinem Opfer. „Ich gebe, weil ich dankbar bin, weil ich dich ehren will und ich dich liebe.“ Er fragt nicht: „Was habe ich davon, was bringt es?“
Gott segnet also Abel mehr als Kain.
Kain muss das gemerkt haben, Abel natürlich auch. Ja, die ganze Umgebung hat es sicherlich gesehen. Den Segen Gottes maß man damals am Erfolg seiner Arbeit. Wenn Abels Vieh mehr gedieh, sein Ertrag größer als der von Kain war, dann ging man davon aus, dass Gott Abel segnete.
Gott segnet den Schwachen und nicht den Starken. Er wendet sich ihm zu. Das ist in Ordnung und das erscheint zugleich ungerecht. Kain, der Starke, der Erstgeborene, fühlt sich benachteiligt.
Kain lässt diese Ungerechtigkeit nicht auf sich sitzen. Er sinnt auf Rache, er wehrt sich gegen das Ungerecht – behandelt - werden.
Wer etwas Unheilvolles denkt, kann nicht frei aufblicken, kann niemandem in die Augen schauen, schon gar nicht Gott gegenüber treten. „Es fiel sein Gesicht“, heißt es so anschaulich. Kain blickt finster zu Boden. Der Blick ist gesenkt, nach innen gerichtet. Es kocht in ihm.
Er schaut grimmig drein und lässt seinem Unmut dann freien Lauf. Kain kennt jetzt keine Gnade. Zu tief ist er selber verletzt. Er schaut weder nach rechts noch nach links und lässt sich nicht mehr abbringen, verbeißt sich in seine unheilvolle Idee.
„Das kannst du nicht mit mir machen, Gott! Ich nehm dir deinen Liebling weg“, könnte er gedacht haben. „Was unternimmst du, Gott, wenn ich Abel töte?“, auch das könnte er gedacht haben.
Kain vergreift sich an Abel in seiner Rebellion gegen Gott. Abel, Gottes schwacher Liebling, wird sein Opfer. Und Gott schaut anscheinend ohnmächtig zu.
Abels Name verrät seine Schwachheit. Er wendet sich Gott zu und Gott wendet sich ihm zu. Dadurch wird er gesegnet und erscheint mächtig. Große Viehherden, gesunde Tiere, das ist Reichtum und Reichtum ist Macht.
Kain dagegen hat Misserfolge. Sein Ertrag ist nur mäßig. Er fühlt sich unterlegen. Und er herrscht nicht über die Sünde, sondern wird von ihr beherrscht, sie setzt sich durch, hat leichtes Spiel mit ihm. Er ist ihr erlegen. Sie hat Macht über ihn und er ist der Besiegte.
Kain wird angesichts der Möglichkeit, eine fürchterliche Rache auszuüben, schwach. Er ist ein Getriebener und unfrei.
In eine Sünde schliddert man nicht hinein, sondern sie wird gezeugt und nach einer Weile geboren. Das braucht Zeit. Bevor jemand zur Tat schreitet, hat da schon etwas in ihm gelauert, hat der Mensch diesem Etwas einen Nährboden gegeben, sodass es wachsen konnte. Und eines Tages hat dieser Mensch sich für die Sünde entschieden. Hat dem lauernden Unwesen die Tür geöffnet.
Ich las kürzlich eine Geschichte, die hierzu passt.
Ein alter Indianer sitzt mit seinem kleinen Enkel am Lagerfeuer und möchte ihm etwas über das Leben erzählen. Er sagt: „Im Leben gibt es zwei Wölfe, die mit einander kämpfen: Der erste heißt Hass, Misstrauen, Feindschaft, Angst und Kampf. Der zweite heißt Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Hoffnung und Friede.“ Der kleine Junge schaut eine Weile nachdenklich ins Feuer und fragt dann: „Und welcher Wolf gewinnt?“ Der alte Indianer schweigt. Nach einer ganzen Weile sagt er: „Der, den du fütterst.“
Zwei Brüder, einander sehr ähnlich, und doch völlig verschieden – vor allem in ihrer Einstellung zu Gott. Der eine im Frieden mit ihm, gesegnet, der andere im Unfrieden, in der Rebellion.
Zwei Menschen, wie sie auch heute leben könnten. An den Gestalten von Kain und Abel hat sich seit der damaligen Zeit nichts geändert. Ihre Geschichte zeigt uns:
Aus der Erhebung gegen Gott wird nicht nur die Beziehung zu Gott gestört, sondern daraus geht auch die soziale Zerstörung hervor – und umgekehrt die soziale Zerstörung ist letztlich eine Erhebung gegen Gott. Das gesamte Beziehungs-Gefüge ist gestört.
Gott aber nimmt dennoch den Faden wieder auf und redet Kain an. „Wo ist dein Bruder Abel?“
Er legt mit dieser Frage den Finger in die wunde Stelle.
Doch wer ertappt wird, reagiert nicht unbedingt damit, dass er sich den Tatsachen stellt. Er sucht nach Ausflüchten.
Kain wird trotzig. „Soll ich das Kindermädchen für meinen Bruder spielen? Der ist doch der Hirte, der Hüter, nicht ich, außerdem ist er selbst erwachsen und kann auf sich aufpassen. Oder du, Gott. Warum hast du nicht auf deinen Liebling aufgepasst? Warum hast du es geschehen lassen? Du hast mich doch erst wütend werden lassen und in diese Tat getrieben. Ich bin dir ja eh nicht gut genug. Jetzt habe ich es dir gezeigt, dass ich jemand bin, stark bin auch ohne dich, und ich zeige dir, dass du nicht allmächtig bist.“ Der Groll und die Rebellion gegen Gott ist das tiefliegende Motiv für Kains Tat. Er wollte Gott wehtun, ihn verletzen. Ihn herausfordern.
Er erkennt nicht, dass die Frage Gottes für ihn eine Gelegenheit zur Umkehr wäre. Er hätte die Chance, sich zu stellen. Genau wie Adam es auf Gottes Frage hin hätte tun können, als Gott rief: „Adam, wo bist du?“
Gottes Frage ist also eine seelsorgerliche Frage. Man kann nur gesunden, wenn man sich seinen dunklen Seiten stellt, sie offen legt vor ihm. Wie reagieren wir? Ablehnend? Trotzig?
Wie reagieren wir, wenn wir mitbekommen, dass wir weniger gesegnet sind als andere? Wenn es anderen besser geht als uns? An solchen Krisenstellen wird deutlich, welche Haltung wir haben. Treibt es uns in die Arme Gottes oder in Verbitterung weg von ihm und von den Menschen? Treibt es uns in boshafte Rachegedanken? Womit sind wir innerlich beschäftigt, angefüllt? Wenn Gott uns anscheinend nicht segnen kann, was machen wir dann?
Wenn wir Kain betrachten, dann haben wir kein Mitleid mit ihm, kein Verständnis für einen Mörder. Wir fordern eine gerechte Strafe. „Der gehört umgebracht“, solche Rufe hört man, wenn man es mit einem Mörder zu tun hat, mit einem Gewaltverbrecher. Man soll kurzen Prozess mit ihm machen. In unserer Geschichte ist der Falsche ums Leben gekommen. Der Gute stirbt, der Schlechte lebt. Das ist unverständlich für uns. Das passt uns nicht. Aber ich denke, die Geschichte gibt uns dazu keine Antwort, will es auch nicht, sondern will die Gedanken auf etwas anderes lenken.
Gott hält der Provokation durch Kain stand. Er opfert das Liebste, um dem Bösen eine Chance zur Umkehr zu geben. Das sehen wir, die wir das Neue Testament kennen erst recht, wenn wir auf den Tod Jesu sehen. Gott begibt sich nicht auf das Niveau von Kain: „Wie du mir, so ich dir.“ Sondern er gibt ihm die Chance der Umkehr.
Aber Kain geht nicht straflos aus. Er wird geächtet. Er hat kein Recht mehr auf menschliche Gemeinschaft. Er bekommt ein Zeichen, dass jeder sehen kann, dass er ein Verbannter ist, den man aber nicht anrühren darf. Er darf nicht einer schnellen Blutrache zum Opfer fallen. Er steht unter Gottes Schutz. Das also ist Folge und Strafe seiner Tat.
Kain will die Trennung von Gott, er geht weg, will mit Gott nichts zu tun haben. Der eigene Stolz hält ihn zurück und bäumt sich gegen die Umkehr auf.
Er wendet sich von Gott ab und irrt umher, wird unstet, flüchtig, ruhelos. Er muss ackern und bekommt doch keinen Ertrag von seinem Land.
Gott aber schützt ihn weiterhin.
Die Geschichte könnte aber auch anders verlaufen.
Bei Lukas lesen wir vom verlorenen Sohn, dass er umkehrt un dzurückkommt. „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir“. Für Kain ist diese Umkehr nicht denkbar.
Und ich? Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Wollen wir diese Frage stellen? Dann möchte ich auf dem Hintergrund dieser Geschichte sagen: Wir sind dafür verantwortlich, dass die Beziehungen von unserer Seite aus intakt bleiben. Wir sind dafür verantwortlich, dass dem Bruder, der Schwester von unserer Seite aus kein Schade zugefügt wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass Rachegedanken, die vor unserer Tür lauern, keinen Einlass bekommen. Wir sind dafür verantwortlich, dass auch unsere Beziehung zu Gott in Ordnung bleibt. Dass wir uns frei halten von Anklagen und Vorwürfen Gott gegenüber, dass wir uns nicht von ihm abwenden. Wir dürfen unser Herz vor ihm ausschütten, wir dürfen klagen vor ihm, aber ihn aus Überheblichkeit herausfordern, das führt zum Zerbruch der Gemeinschaft in jeglicher Hinsicht.
Frieden möchte Jesus uns geben, seinen Frieden. Ruhe möchte er uns geben. Alles Unstete, Getriebene soll verschwinden. Eine von Vertrauen geprägte Gemeinschaft mit ihm und dem Bruder, der Schwester ist sein Geschenk an uns. Und wenn wir Unrecht getan haben, bleibt er treu und verwirft uns nicht, wenn wir umkehren.
Wo bist du, Adam? Wo ist dein Bruder, Kain? Und wir antworten: Hier bin ich und neben mir ist mein Bruder und meine Schwester. Und ich will sein/ihr Hüter sein.
Anton und Ronald sind Schulanfänger. Ihre erste Schulwoche ist angebrochen. Voller Neugier und Eifer machen sie im Unterricht mit und wenn der Lehrer fragt, gehen ihre Finger hoch – sie wollen was sagen – ganz gleich ob richtig oder falsch. Sie sind begeistert, sie wollen zeigen, was sie können. Hier!! Ich!!
Später verliert sich das. Das ist bei den meisten Schülern so. Eine träge Schülermasse quält sich - und den Lehrer - durch den Schulalltag.
Vor allem wenn es um peinliche Fragen geht - z.B. wer hat das Papier auf dem Flur fallen lassen? Wer hat dem Anton den Anorak weggenommen - dann befällt die sonst so rege Meute ein tiefes Schweigen. Niemand war es. Warum? Weil man ja dann zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Weil es peinlich ist. Weil man sich nicht blamieren will. Weil man die Strafe fürchtet. Dabei hat der Unfug doch eigentlich ein bisschen Spaß gemacht, den Anton zu ärgern ist lustig und der Nervenkitzel, ob man nun erwischt wird oder nicht, tut sein Übriges.
Ein geübter Lehrerblick aber durchschaut schnell die Situation. Und liegt meist richtig. „Ronald, wo ist Antons Anorak?“ Und Ronald streitet alles heftig ab. „Was kümmert mich Antons Anorak? Soll der doch selber auf seine Sachen aufpassen. Und außerdem haben Sie den Klassenraum nicht abgeschlossen. Sie sind schuld, dass der Anorak weggekommen ist.“
Diese in unseren Augen harmlose Geschichte steht natürlich nicht in der Bibel. Und Anton und Ronald sind keine biblischen Namen. Aber Abel und Kain sind biblische Namen. Abel bedeutet: „Hauch“ oder „Nichtigkeit“. Káin bedeutet: „Erwerb, Erworbenes, Gewinn“. Doch kein modernes Elternpaar würde seinen Jungen Abel nennen, weil er nicht stark klingt, oder Kain, weil er ein Mörder wurde. Anton bedeutet „preiswürdig, unschätzbar, unverkäuflich“, Ronald bedeutet „der die Kraft der Götter hat“. Das hört sich schon besser an.
Doch Kain und Ronald haben etwas gemeinsam. Sie sind Täter und Opfer zugleich. In unseren Augen sind sie Täter, in ihren eigenen Augen sind sie Opfer. Das ist oft so im Leben. Da wird manches aus einem verzerrten Blickwinkel zum eigenen Vorteil gesehen. Es ist schwierig, das eigene Fehl-Verhalten vorbehaltlos kritisch einzuschätzen und sich zu stellen. Lieber ist man damit beschäftigt, sich zu verteidigen, die Schuld wegzuschieben, zu leugnen oder zu verharmlosen. Zum deutlichen Bekenntnis gehört Mut. Es ist ein Akt der Demut, des Sich-klein-machens, des Sich-nicht-mehr-stark-fühlens, und dann der Wahrheit ins Gesicht schauen. Sich hinstellen: Hier!!! Ich!!!
Kain und Abel brachten Gott ihre Opfergaben dar. Es waren Erstlingsopfer. Erstlingsopfer haben im gesamten Alten Orient eine große Bedeutung: die erste Frucht eines Baumes und der erste Wurf eines Tieres werden als Dank für die erwiesene Fruchtbarkeit und als Bitte für weiteren Segen geopfert.
In unserem Text heißt es nur: „Gott schaute wohlgefällig auf Abel. Er schaute auch wohlgefällig auf sein Opfer.“ Gottes Blick ist nicht getrübt. Er hat den Durchblick, er durchschaut die Motive, die Haltung, die Echtheit oder Unechtheit der Opfergabe, die Herzenshaltung. Es gab einen Unterschied zwischen den beiden Opfernden. Gott sieht den Unterschied. Was Abel tut, gefällt ihm. Auf Kains Opfer aber sah er nicht.
„Wie kam es, dass Abels Opfer Gott besser gefiel als das von Kain?“ so fragen wir und so fragt auch der Schreiber des Hebräerbriefes. Wir lesen die Antwort: „Der Grund dafür war Abels Glaube. Weil Abel Gott vertraute, nahm Gott seine Gaben an und stellte ihm damit das Zeugnis aus, dass er vor ihm bestehen konnte. Und durch seinen Glauben redet Abel heute noch zu uns, obwohl er längst gestorben ist.“
Durch Abel redet Gott zu uns über den Glauben. Es kommt also nicht darauf an, was wir tun, wie viel oder was wir opfern, sondern in welcher Haltung Gott gegenüber wir etwas tun. Es kommt auf den Glauben an, auf das Vertrauen zu Gott. Das kann Gott segnen, wie er es bei Abel segnete.
Kain hatte sich mit seinem Opfer anscheinend Erfolg versprochen. „Do ut des“ – „ich gebe, damit du gibst“. Das war berechnend. Mehr nicht. Das führte jedoch eben gerade nicht zum Erfolg. Abel dagegen hat vielleicht eher an die Beziehung zu Gott gedacht bei seinem Opfer. „Ich gebe, weil ich dankbar bin, weil ich dich ehren will und ich dich liebe.“ Er fragt nicht: „Was habe ich davon, was bringt es?“
Gott segnet also Abel mehr als Kain.
Kain muss das gemerkt haben, Abel natürlich auch. Ja, die ganze Umgebung hat es sicherlich gesehen. Den Segen Gottes maß man damals am Erfolg seiner Arbeit. Wenn Abels Vieh mehr gedieh, sein Ertrag größer als der von Kain war, dann ging man davon aus, dass Gott Abel segnete.
Gott segnet den Schwachen und nicht den Starken. Er wendet sich ihm zu. Das ist in Ordnung und das erscheint zugleich ungerecht. Kain, der Starke, der Erstgeborene, fühlt sich benachteiligt.
Kain lässt diese Ungerechtigkeit nicht auf sich sitzen. Er sinnt auf Rache, er wehrt sich gegen das Ungerecht – behandelt - werden.
Wer etwas Unheilvolles denkt, kann nicht frei aufblicken, kann niemandem in die Augen schauen, schon gar nicht Gott gegenüber treten. „Es fiel sein Gesicht“, heißt es so anschaulich. Kain blickt finster zu Boden. Der Blick ist gesenkt, nach innen gerichtet. Es kocht in ihm.
Er schaut grimmig drein und lässt seinem Unmut dann freien Lauf. Kain kennt jetzt keine Gnade. Zu tief ist er selber verletzt. Er schaut weder nach rechts noch nach links und lässt sich nicht mehr abbringen, verbeißt sich in seine unheilvolle Idee.
„Das kannst du nicht mit mir machen, Gott! Ich nehm dir deinen Liebling weg“, könnte er gedacht haben. „Was unternimmst du, Gott, wenn ich Abel töte?“, auch das könnte er gedacht haben.
Kain vergreift sich an Abel in seiner Rebellion gegen Gott. Abel, Gottes schwacher Liebling, wird sein Opfer. Und Gott schaut anscheinend ohnmächtig zu.
Abels Name verrät seine Schwachheit. Er wendet sich Gott zu und Gott wendet sich ihm zu. Dadurch wird er gesegnet und erscheint mächtig. Große Viehherden, gesunde Tiere, das ist Reichtum und Reichtum ist Macht.
Kain dagegen hat Misserfolge. Sein Ertrag ist nur mäßig. Er fühlt sich unterlegen. Und er herrscht nicht über die Sünde, sondern wird von ihr beherrscht, sie setzt sich durch, hat leichtes Spiel mit ihm. Er ist ihr erlegen. Sie hat Macht über ihn und er ist der Besiegte.
Kain wird angesichts der Möglichkeit, eine fürchterliche Rache auszuüben, schwach. Er ist ein Getriebener und unfrei.
In eine Sünde schliddert man nicht hinein, sondern sie wird gezeugt und nach einer Weile geboren. Das braucht Zeit. Bevor jemand zur Tat schreitet, hat da schon etwas in ihm gelauert, hat der Mensch diesem Etwas einen Nährboden gegeben, sodass es wachsen konnte. Und eines Tages hat dieser Mensch sich für die Sünde entschieden. Hat dem lauernden Unwesen die Tür geöffnet.
Ich las kürzlich eine Geschichte, die hierzu passt.
Ein alter Indianer sitzt mit seinem kleinen Enkel am Lagerfeuer und möchte ihm etwas über das Leben erzählen. Er sagt: „Im Leben gibt es zwei Wölfe, die mit einander kämpfen: Der erste heißt Hass, Misstrauen, Feindschaft, Angst und Kampf. Der zweite heißt Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Hoffnung und Friede.“ Der kleine Junge schaut eine Weile nachdenklich ins Feuer und fragt dann: „Und welcher Wolf gewinnt?“ Der alte Indianer schweigt. Nach einer ganzen Weile sagt er: „Der, den du fütterst.“
Zwei Brüder, einander sehr ähnlich, und doch völlig verschieden – vor allem in ihrer Einstellung zu Gott. Der eine im Frieden mit ihm, gesegnet, der andere im Unfrieden, in der Rebellion.
Zwei Menschen, wie sie auch heute leben könnten. An den Gestalten von Kain und Abel hat sich seit der damaligen Zeit nichts geändert. Ihre Geschichte zeigt uns:
Aus der Erhebung gegen Gott wird nicht nur die Beziehung zu Gott gestört, sondern daraus geht auch die soziale Zerstörung hervor – und umgekehrt die soziale Zerstörung ist letztlich eine Erhebung gegen Gott. Das gesamte Beziehungs-Gefüge ist gestört.
Gott aber nimmt dennoch den Faden wieder auf und redet Kain an. „Wo ist dein Bruder Abel?“
Er legt mit dieser Frage den Finger in die wunde Stelle.
Doch wer ertappt wird, reagiert nicht unbedingt damit, dass er sich den Tatsachen stellt. Er sucht nach Ausflüchten.
Kain wird trotzig. „Soll ich das Kindermädchen für meinen Bruder spielen? Der ist doch der Hirte, der Hüter, nicht ich, außerdem ist er selbst erwachsen und kann auf sich aufpassen. Oder du, Gott. Warum hast du nicht auf deinen Liebling aufgepasst? Warum hast du es geschehen lassen? Du hast mich doch erst wütend werden lassen und in diese Tat getrieben. Ich bin dir ja eh nicht gut genug. Jetzt habe ich es dir gezeigt, dass ich jemand bin, stark bin auch ohne dich, und ich zeige dir, dass du nicht allmächtig bist.“ Der Groll und die Rebellion gegen Gott ist das tiefliegende Motiv für Kains Tat. Er wollte Gott wehtun, ihn verletzen. Ihn herausfordern.
Er erkennt nicht, dass die Frage Gottes für ihn eine Gelegenheit zur Umkehr wäre. Er hätte die Chance, sich zu stellen. Genau wie Adam es auf Gottes Frage hin hätte tun können, als Gott rief: „Adam, wo bist du?“
Gottes Frage ist also eine seelsorgerliche Frage. Man kann nur gesunden, wenn man sich seinen dunklen Seiten stellt, sie offen legt vor ihm. Wie reagieren wir? Ablehnend? Trotzig?
Wie reagieren wir, wenn wir mitbekommen, dass wir weniger gesegnet sind als andere? Wenn es anderen besser geht als uns? An solchen Krisenstellen wird deutlich, welche Haltung wir haben. Treibt es uns in die Arme Gottes oder in Verbitterung weg von ihm und von den Menschen? Treibt es uns in boshafte Rachegedanken? Womit sind wir innerlich beschäftigt, angefüllt? Wenn Gott uns anscheinend nicht segnen kann, was machen wir dann?
Wenn wir Kain betrachten, dann haben wir kein Mitleid mit ihm, kein Verständnis für einen Mörder. Wir fordern eine gerechte Strafe. „Der gehört umgebracht“, solche Rufe hört man, wenn man es mit einem Mörder zu tun hat, mit einem Gewaltverbrecher. Man soll kurzen Prozess mit ihm machen. In unserer Geschichte ist der Falsche ums Leben gekommen. Der Gute stirbt, der Schlechte lebt. Das ist unverständlich für uns. Das passt uns nicht. Aber ich denke, die Geschichte gibt uns dazu keine Antwort, will es auch nicht, sondern will die Gedanken auf etwas anderes lenken.
Gott hält der Provokation durch Kain stand. Er opfert das Liebste, um dem Bösen eine Chance zur Umkehr zu geben. Das sehen wir, die wir das Neue Testament kennen erst recht, wenn wir auf den Tod Jesu sehen. Gott begibt sich nicht auf das Niveau von Kain: „Wie du mir, so ich dir.“ Sondern er gibt ihm die Chance der Umkehr.
Aber Kain geht nicht straflos aus. Er wird geächtet. Er hat kein Recht mehr auf menschliche Gemeinschaft. Er bekommt ein Zeichen, dass jeder sehen kann, dass er ein Verbannter ist, den man aber nicht anrühren darf. Er darf nicht einer schnellen Blutrache zum Opfer fallen. Er steht unter Gottes Schutz. Das also ist Folge und Strafe seiner Tat.
Kain will die Trennung von Gott, er geht weg, will mit Gott nichts zu tun haben. Der eigene Stolz hält ihn zurück und bäumt sich gegen die Umkehr auf.
Er wendet sich von Gott ab und irrt umher, wird unstet, flüchtig, ruhelos. Er muss ackern und bekommt doch keinen Ertrag von seinem Land.
Gott aber schützt ihn weiterhin.
Die Geschichte könnte aber auch anders verlaufen.
Bei Lukas lesen wir vom verlorenen Sohn, dass er umkehrt un dzurückkommt. „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir“. Für Kain ist diese Umkehr nicht denkbar.
Und ich? Soll ich meines Bruders Hüter sein?
Wollen wir diese Frage stellen? Dann möchte ich auf dem Hintergrund dieser Geschichte sagen: Wir sind dafür verantwortlich, dass die Beziehungen von unserer Seite aus intakt bleiben. Wir sind dafür verantwortlich, dass dem Bruder, der Schwester von unserer Seite aus kein Schade zugefügt wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass Rachegedanken, die vor unserer Tür lauern, keinen Einlass bekommen. Wir sind dafür verantwortlich, dass auch unsere Beziehung zu Gott in Ordnung bleibt. Dass wir uns frei halten von Anklagen und Vorwürfen Gott gegenüber, dass wir uns nicht von ihm abwenden. Wir dürfen unser Herz vor ihm ausschütten, wir dürfen klagen vor ihm, aber ihn aus Überheblichkeit herausfordern, das führt zum Zerbruch der Gemeinschaft in jeglicher Hinsicht.
Frieden möchte Jesus uns geben, seinen Frieden. Ruhe möchte er uns geben. Alles Unstete, Getriebene soll verschwinden. Eine von Vertrauen geprägte Gemeinschaft mit ihm und dem Bruder, der Schwester ist sein Geschenk an uns. Und wenn wir Unrecht getan haben, bleibt er treu und verwirft uns nicht, wenn wir umkehren.
Wo bist du, Adam? Wo ist dein Bruder, Kain? Und wir antworten: Hier bin ich und neben mir ist mein Bruder und meine Schwester. Und ich will sein/ihr Hüter sein.