Am Ende bin ich immer noch bei dir (Gedanken zu Psalm 139)

Predigt zum Thema Gott

von  tulpenrot

„Am Ende bin ich noch immer bei dir“ - das ist ein angenehmer, freundlicher Gedanke, der uns im Vers 18 vor dem Stimmungs-Umschwung in Vers 19 begegnet, wo es kämpferisch weiter geht. Es klingt, als hielte der Beter inne und sei in all seinen langen Überlegungen über sein irdisches Leben und sein Verhältnis zu Gott zu einem friedlichen Ergebnis gekommen: „Am Ende, ganz am Ende meiner Gedanken und sogar meines Lebens gibt es nur einen Haltepunkt. Und der ist Gott selber. Bei ihm bin ich geblieben. Dort bin ich immer noch. Es hat mich nichts, aber auch gar nichts weggetrieben von ihm oder unsicher gemacht. Dort war ich schon lange und bin es immer noch.“

   Dabei vermittelt der Psalm nicht nur gemütliche Beschaulichkeit. Man darf die Verse 19-22 nicht ohne weiteres außer Acht lassen, auch wenn es üblich ist. Andernfalls verliert der Psalm an Tiefe und verflacht zu einem Meditationstext, der dem Inhalt und Hintergrund nicht gerecht wird. Denn diese Verse legen nahe, dass der Psalmist aus einer Bedrohungssituation heraus diesen Text verfasst hat. Er hat Feinde ausgemacht, die Religion dazu benutzen, um strukturelle Gewalt gegen die Gesellschaft auszuüben. Selbst der Psalmist fühlt sich persönlich betroffen und angeklagt, als würde er Abgötterei betreiben. Deshalb ringt er mit Gott um die Klärung dieser ihn persönlich treffenden Schuldfrage und um die Feststellung seiner Unschuld. Er geht den Weg der totalen Transparenz, der ungeschminkten Ehrlichkeit gegenüber Gott und öffnet sich voller Vertrauen vor ihm: Gott möge ihn einer Erforschung und Prüfung unterziehen. Er überantwortet sich seinem Urteil. Gleichzeitig reiht er sich nicht nur in den Protest gegen die Feinde ein, sondern in den konkreten Widerstand und Kampf gegen sie. Er ist der Gotteswahrheit verpflichtet, die bei einem Erfolg der Feinde auf dem Spiel steht. Der Beter stemmt sich gegen alle Zerstörungsabsichten der Feinde – das ist mit „hassen“ gemeint – weil Gottes Feinde zugleich seine Feinde sind. Dabei schwankt er zwischen Rache-Anmaßung und Rache-Verzicht. (Erich Zenger, Beat Weber) Es geht dem Beter darum, nicht dem Urteil der Feinde unterstellt zu sein, sondern von Gott erkannt und beurteilt zu werden und Gott zu erkennen.

   Er öffnet sich also Gott vertrauensvoll und gewährt ihm einen forschenden Blick in sein Innerstes. Er tut das rückhaltlos, weiß er doch, dass Gott mit ihm verständnisvoll, vorsichtig und heilsam mit seinem Innern umgeht, anders als ein menschlicher Betrachter, der womöglich zerstörerisch wirkt. Auch in allen Alltäglichkeiten seines Lebens fühlt er sich von Gott liebevoll beachtet - seien sie noch so belanglos und wenig tiefsinnig. Er erfährt ihn als einen fürsorglichen und wachsamen Gott, ähnlich wie es im NT ausgesprochen wird: „Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt.“ (Mt 10,30; Lk 12,7)

   Der Psalmist weiß, dass von vorneherein sein ganzes Sein vor Gott offen da liegt: nicht nur die Worte, sondern auch das Unausgesprochene, seine Gedanken. Gott durchschaut den Menschen, kennt seine Motive, seine Antriebe und das Verheimlichte, das, was andere Menschen nicht sehen, vielleicht nur ahnen können: das Zwiespältige, das Zornige, das Unschöne, Unsaubere, das innere Ringen um Wahrheit und die richtige Entscheidung. Alle Lügen, Halbwahrheiten und Verschleierungen liegen offen vor ihm. Auch alles Gute wird von Gott gewürdigt, selbst, wenn es andere Menschen nie würdigen würden, nicht erkennen oder sehen wollen. Gott erkennt es. Wenn sich jemand so schutzlos öffnet, dann ist er verletzlich. Doch Gott umgibt den Beter wie ein unsichtbarer Mantel. Der Beter spürt und erfährt, dass er begleitet wird.

Gottes Hand ist über ihm, das bedeutet Schutz, aber auch Besitz, Eigentum. Der Psalmist gehört ihm, und niemand anderes kann Ansprüche erheben, solange die Hand Gottes auf ihm ruht. Das erinnert z.B. an die Stellen in 5. Mose 32,10 oder Ps. 17,18: Der Mensch ist für Gott so kostbar wie sein eigener Augapfel. Sein ganzes Leben von Mutterleib an ist in Gottes Hand.

   Die Nähe zu Gott ist eigentlich unbeschreiblich und mit Worten kaum zu erfassen. Der große erhabene Schöpfer nähert sich dem Menschen, der ja nur sein Geschöpf ist. Solch eine Beziehung ist mit nichts zu vergleichen. Alles Weggehen vor Gottes Geist, alles Fliehen vor seinem Angesicht hilft nichts. Warum auch sollte er fliehen? Was hätte er zu befürchten? Er will nicht fliehen, aber selbst wenn er es wollte, er käme nicht von Gott los. Gottes Gegenwart ergreift den Beter im gesamten All, im Osten wie im Westen und sogar in der Unterwelt bei den Toten. Selbst durch eine Flucht ins Dunkel, in die ungeordnete Nichtexistenz, kann er Gott und auch der Frage nach seiner Herkunft nicht aus dem Wege gehen. Der Beter des Psalms spielt zwar mit dem Gedanken, der Allpräsenz Gottes zu entkommen. Doch mit letzter Konsequenz will er es eigentlich nicht. Und er kann es nicht. Die Aussagen des Beters oszillieren, sie bewegen sich hin und her zwischen der - von manchen als bedrohlich empfundenen – Nähe Gottes  und der Geborgenheit in ihm. Er ringt mit Gott, er leidet an ihm, aber will und kann nicht von ihm loskommen.

   Und er beschäftigt sich mit den Einsichten, die er auf weisheitlichem Wege von Gott zu erkennen vermag. Er schreibt seine Entstehung Gott zu. Der Beter weiß sich von Anfang an schon vorgeburtlich von Gottes Hand berührt. Gott hat ihn von Innen her kunstvoll erschaffen, ist tätig gewesen wie ein Weber mit seinem Weberschiffchen, der eine Leinwand in Buntwirkerarbeit herstellt. Auf geheimnisvolle Weise, geradezu unsichtbar im Dunklen ist er entstanden. Das ist so überwältigend für den Beter, dass er Ehrfurcht empfindet vor dieser Machtentfaltung Gottes. Der Beter kommt zu der Einsicht, dass Gottes Schöpfung lobenswert ist, dass auch der Körper des Menschen etwas Wunderbares ist. Es ist nicht nur der Verstand, sondern seine Seele, die das begreift. Tief im Innern weiß er um die Vollkommenheit der Schöpfung. Man kann sich über seine Kunstfertigkeit nur wundern und darüber staunen. Gottes Gedanken, seine Einfälle, sein Ideenreichtum sind so unzählbar wie der Sand am Meer. Der Beter kann nur ergriffen staunen über solch eine Fülle und sie wert schätzen. Alle menschliche Überheblichkeit hat ein Ende, alles Besserwissen auch.

   Gott ist der Souverän der Zeit. Er schaut über das Gegenwärtige hinaus. Die menschlichen Vorstellungen von Zeit jedoch sind begrenzt auf die fassbare, messbare Zeit. Gott aber hat mehr im Blick als nur Anfang und Ende seiner Schöpfung, das Gestern und Heute, sondern auch die Urzeiten vor aller Zeit und die Zukunft bis hin in alle Ewigkeit.

   Auch wenn der Beter Gottes Möglichkeiten nicht fassen kann und vor der Fülle und Unbegreiflichkeit demütig einknickt, kapituliert, es ändert nichts – ganz am Ende trennt den Menschen nichts von Gott, selbst die Feinde nicht. Das erinnert an die Gedanken des Paulus in Römer 8,36: „Weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm HERRN.“ Der betende Mensch lässt Gott nicht los und Gott lässt den betenden Menschen nicht.

 




Anmerkung von tulpenrot:

Psalm 139

1   Ein Psalm Davids, vorzusingen.

     HERR, du erforschest mich und kennest mich.
2   Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von
    ferne.
3   Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.
4   Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon
     wüsstest.
5   Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.
6   Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht  
    begreifen.
7   Wohin soll ich gehen vor deinem Geist und wohin soll ich fliehen vor
    deinem Angesicht?
8   Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten,
     siehe, so bist du auch da.
9   Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
10 so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich
     sein –,
12 so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie
     der Tag. Finsternis ist wie das Licht.
13 Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.
14 Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind
    deine  Werke; das erkennt meine Seele.
15 Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht
     wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde.
16 Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage
     waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen
     keiner da war.
17 Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken!
     Wie ist ihre Summe so groß!
18 Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand:
     Am Ende bin ich noch immer bei dir.
19 Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten!
    Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!
20 Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit
     frechem Mut.
21 Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen,
    die sich gegen dich erheben?
22 Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.
23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne,
    wie ich's meine.
24 Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.

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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (11.10.22, 23:33)
Gott schütze dich, tulpenrot!

 tulpenrot meinte dazu am 12.10.22 um 19:36:
Danke, Verlo.

 Verlo antwortete darauf am 12.10.22 um 19:44:
tulpenrot, du hast dir viel Mühe mit deinem Text gegeben.

Das strahlt aus und erreicht auch Leser, die Gott weniger nahe sind.

 tulpenrot schrieb daraufhin am 12.10.22 um 19:50:
Ja, das mit der Mühe stimmt. Aber äußerst selten erfahre ich, wie es bei Lesern oder Hörern ankommt. Dafür noch mal ein Extradank an dich!
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