dass ihr einander liebt – ein Versuch

Predigt zum Thema Betrachtung

von  tulpenrot

Ich lese heute Morgen am 10.01.2025 im Losungsbüchlein der Herrnhuter Brüdergemeine - und stolpere.


Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt. Joh. 13,34-35   ZB

„Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt.“

So eine überspannte Wortwahl! Ich höre schon, wie man andächtig diese Stelle in irgendeinem Bibelkreis vorliest, gedankenlos nickt, ohne etwas zu merken, dass da etwas schief ist. Es ist ja eine „moderne“ Übersetzung, die Zürcher Bibelübersetzung von 2007, mit ihr fühlt man sich auf der richtigen Seite. Bei mir aber verursacht das nur Bauchweh und Unbehagen. Warum kann man nicht stattdessen sagen „Wenn ihr einander liebt“?

(Die Basisbibel von 2021 z. B. übersetzt „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“)

Das sind eindeutige Worte, es wird klar, was gemeint ist. Da weiß man woran man ist. Man kann dagegen sein oder dafür.

Die Übersetzung aus der Zürcher Bibel „Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt“ klingt so gelehrt und fern. Es berührt doch niemanden. Innerlich. Ich mag sie nicht. In mir jedenfalls sträubt sich alles dagegen.

„Wenn ihr einander liebt…“ Und sofort kommt dann von den Bibelkreisteilnehmern auch dieser Satz: „Aus unserer eigenen Kraft können wir das nicht, einander lieben - das kann nur Jesus in uns tun“ – und alle aus dem Bibelkreis gucken traurig, nicken betroffen - und damit ist der Fall erledigt. Wir haben in der Bibel gelesen und hatten fromme Gedanken. Das war‘s dann. Das tägliche fromme Viertelstündchen kann man abhaken und zur Tagesordnung übergehen. Mir reicht das nicht, diese vorschnellen Hauruck-Antworten, die man floskelhaft wiederholt, ohne sich um den Text zu kümmern und ihn aufmerksam zu studieren und nach begründeten Antworten zu suchen.


Und ich? Was mache ich mit dem Satz? Ich weiß nur: Ich liebe "euch" nicht, ich kann es nicht. Die Leute in der Gemeinde nicht, auch meine Verwandten nicht, die „Freunde“ nicht. Da ist niemand, der mir so wichtig ist, dass ich sagen könnte, dass ich ihn liebe. Provokant, nicht wahr? (Ich liebe meine Tochter, das kann ich aus vollem Herzen sagen, aber sonst...?) Natürlich halte ich Kontakt mit vielen Menschen, ich freue mich, wenn Verwandte oder Freunde kommen oder anrufen. Aber ich liebe sie nicht. Muss ich? Damit ich das Gesetz Christi erfülle? Und wie kommt es, dass ich nicht lieben kann, es auch gar nicht will?


Andersherum gedacht: Will ich geliebt werden? Sollen andere mich lieben? Nein. Sie sollen korrekt mit mir umgehen, freundlich sein im Umgang mit mir, offen sein im Gespräch, mit mir reden oder antworten. Sie sollen nicht böswillig irgendetwas gegen mich unternehmen. Aber mich lieben? Mir nahe sein wollen? Nein. Das will ich erst gar nicht.

Es gibt einen Film „Man muss mich nicht lieben“, eine französische Tragikomödie von Stéphane Brizé aus dem Jahr 2005. Es geht um einen alternden, alleinstehenden Mann mit einem grauen Alltag und einem ebensolchen Beruf. Ein vergrautes, tristes Leben ohne Erwartungen. Er lebt halt, weil man muss, ohne Interesse an anderen Menschen, an ihrem Leben, an der Umwelt. Freudlos. Er liebt niemanden und will auch nicht geliebt werden, weil er das nicht kennt. Nur Pflichterfüllung und nicht auffallen wollen, das kennt er. Das genügt ihm. Muss genügen. Ich kann den Protagonisten verstehen, auch wenn so ein Leben nicht gerade anziehend wirkt.


Vor etlichen Jahrzehnten sprach ich mit meinen Schülerinnen über das Thema „Schönheit“. Ich legte ihnen ganz verschiedene Porträtaufnahmen vor – Filmstars, bekannte Persönlichkeiten, Werbeaufnahmen, Alltagsmenschen. Sie sollten sich entscheiden, wer das schönste Gesicht hatte und mit wem sie deswegen gerne zusammensein wollten. Zu meiner Überraschung entschied sich die Klasse geschlossen für das Foto von einer alten runzeligen, aber freundlich lächelnden Bauersfrau mit Kopftuch. Warum? „Sie guckt so lieb.“ Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie ihre Entscheidung nur mir zuliebe getroffen hatten. (Aber wer weiß?) Ich selber hätte mich auch für diese Person entschieden. Ich habe sogar dieses Foto noch vor Augen, die anderen Gesichter hab ich längst vergessen. Mir ist diese Begebenheit nachgegangen: Was macht dieses Gesicht so anziehend? „Sie schaut so lieb.“ Mit so jemandem wollten meine Schülerinnen eher zu tun haben als mit den gestylten und geschminkten „Schönheiten“.

 

Liebe kann man also sehen. Sie prägt einen Menschen, sein ganzes Verhalten und sogar sein Aussehen. Und sie wirkt anziehend.

 

„Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt.“ Hab ich eigentlich dieses Gebot verstanden? Oder ist es einfach nur unerfüllbar? Hab ich verstanden, was mit Liebe gemeint ist? Die Messlatte ist hoch, wenn ich an 1Kor 13 denke, bekannt als das Hohelied der Liebe. In einem Ausschnitt ( V 4-7) daraus heißt es ja:

Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.

Das ist mehr als von einem warmen Gefühl durchströmt zu sein, das eine Person bei mir auslöst. Liebe ist vielmehr ein Willensakt, nicht nur ein Gefühl der Zuneigung. Ich will! Liebe hat mit Barmherzigkeit, Gnade, Mitgefühl, Nächstenliebe zu tun. Das ist schon eine andere Hausnummer als für jemanden warme Gefühle zu hegen. Das will ich leisten. Da mache ich gerne mit! Von ganzem Herzen sogar! Ohne mich zu einem Gefühl zu zwingen oder mich zu verstellen. Ich will der Liebe „keinen Raum“ geben, als ob das etwas wäre, das außerhalb von mir existiert, sondern ich will sie tun. Ich will barmherzig sein, ich will Gnade walten lassen, ich will mit anderen mitfühlen. Ich entscheide mich, mich nicht zu ereifern, nicht zu prahlen, mich nicht größer zu machen, als ich bin… usw.

Jeden Tag neu, jeden Tag mit anderem Schwerpunkt. Da habe ich viel zu tun.
Und es ist schön.

 



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Kommentare zu diesem Text


 minimum (13.01.25, 12:36)
Ein sehr lesenswerter, gedanklich anregender Text. (Auch für einen Leser, der, frei nach Max Weber, religiös unmusikalisch ist.)

 tulpenrot meinte dazu am 13.01.25 um 16:44:
Danke für deine Rückmeldung - und dass du als "religiös unmusikalischer" Mensch meinen Text als sehr lesenswert und anregend bewertest, freut mich sehr! So soll es sein. Danke und viele Grüße aus dem Studierstübchen

 EkkehartMittelberg (13.01.25, 17:46)
"Liebe ist vielmehr ein Willensakt, nicht nur ein Gefühl der Zuneigung." Das gefällt mir, Tulpi. So gesehen kann ich primitiver Instinkte entsagen und sogar meine Feinde lieben.
Liebe Grüße
Ekki 

 tulpenrot antwortete darauf am 13.01.25 um 19:45:
Ja, diese Einsicht hat mir auch weitergeholfen.
Danke für deine Worte und auch liebe Grüße
"Tulpi"

 ginTon (13.01.25, 21:51)
schöner Satz: "wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt", für mich kein Akt des Willens, sondern e i n f a c h  n u r  d a...


du 

e i n f a c h  n u r  d a

im Raum meines
Glücks

Liebe...

Kommentar geändert am 13.01.2025 um 21:54 Uhr

 tulpenrot schrieb daraufhin am 13.01.25 um 22:25:
Für "den Raum meines Glücks" mag das stimmen, aber darüber hinaus? 
Danke für deine Empfehlung.

 ginTon äußerte darauf am 13.01.25 um 22:52:
wenn es drin ist, dann ist es auch darüber hinaus... alles andere scheint eine Illusion zu sein, oder? jetzt mutier ich noch zum Prediger, wie kommts  :P

 tulpenrot ergänzte dazu am 14.01.25 um 11:11:
Oder ist es dann pure Romantik zwischen zwei  Romantikern?

 ginTon meinte dazu am 14.01.25 um 22:34:
vllt. ist es auch ein Roman Tick, ich konnte nicht anders, schuldigung  :P 

nein, also jetzt im Ernst: der Ausdruck einander zu lieben versus der Liebe Raum zu geben, ist schon komplett etwas anderes, weil das Eine konkret auf zwischenmenschliche Beziehungen eingeht, wie z.B. Liebe deinen Nächsten und das andere sich auf jeden direkt selbst bezieht. es ist eine Aufforderung in sich zunächst erst einmal die Liebe zu entdecken, Raum zu geben, um sich zu entwickeln, whatever, was natürlich als Conclusio, das einander beinhaltet, denn ehrlich gesagt würde sich ja insgeheim jeder gerne eher zum positiven Wenden, als ein "hasst einander" in seinem Kern zu integrieren, denke ich zumindest...

 AchterZwerg (14.01.25, 06:49)
Ja,
"die Liebe ist das Schwerste"
und unser Wunsch nach Ruhe "heilig." 8-)

 tulpenrot meinte dazu am 14.01.25 um 10:23:
Stimmt, aber es geht.

 Regina (14.01.25, 09:50)
Barmherzigkeit, Mitgefühl, Fairness, das sind alles erstrebenswerte Tugenden, aber Liebe ist umfassender und meiner Meinung nach kein Willensakt.

Kommentar geändert am 14.01.2025 um 09:52 Uhr

 tulpenrot meinte dazu am 14.01.25 um 10:24:
Ich hab mit den aufgezählten Verhaltensweisen schon mehr als genug zu tun. Mehr geht nicht.

 Regina meinte dazu am 14.01.25 um 12:10:
Anscheinend hast du den Kommentar nicht verstanden.

 tulpenrot meinte dazu am 14.01.25 um 15:23:
Und jetzt?

 Regina meinte dazu am 14.01.25 um 15:25:
Ich habe nicht gemeint, dass du mehr tun sollst.

 tulpenrot meinte dazu am 14.01.25 um 15:35:
Gut!
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