Gestern las ich noch einmal die berühmte Stelle in Bachtins "Rabelais und seine Welt", wo er die Terrakottafiguren aus Kertsch von schwangeren, alten Hexen beschreibt. Wie ihr hohes Alter und die Aufblähung ihrer Bäuche grotesk unterstrichen werde. Und wie seltsam es sei, dass die Alten auch noch lachten. Es handele sich, so Bachtin, um eine sehr expressive und charakteristische Darstellung des "grotesken Körpers", die in ihrer ganzen Ambivalenz begriffen werden müsse. Dargestellt sei der schwangere Tod, ein Tod, der aber auch Leben gebe. In den Körpern dieser alten Hexen könne nichts ruhig und still sein. Sie vereinigten seniles, schon beinah der Verwesung anheimgegebenes Fleisch mit dem embryonalen Fleisch neuen Lebens. Auf diese Weise werde das Leben als solches als ein ambivalenter Prozess dargestellt, der in sich widersprüchlich sei.
Ich versuchte, die von Bachtin beschriebenen Terrakottafiguren auf Abbildungen hin zu googlen, stieß aber nur auf die ebenfalls berühmten Vasen aus Kertsch. Es gibt offenbar keine Abbildungen der lachenden Alten aus Kertsch im Netz, was ich einerseits sehr schade fand, aber andererseits meiner Fantasie freien Lauf ließ. Und so musste ich daran denken, wie ich letzten Freitag zufällig, im Vorbeigehen das erste Mal Angela Merkel live sah. Ich hatte drei Mal falsch die Geheimnummer in meinem Handy eingegeben und wollte zum Telekomshop, um es entsperren zu lassen. Also kam ich am Opernplatz und der dort unausweichlichen Wahlkampfveranstaltung der CDU vorbei. Neben Angela Merkel stand auch Ursula von der Leyen auf der Bühne und andere "alte" Frauen vermutlich hannover´sch christdemokratischer Provenienz, alle wie frisch vom selben Frisör und fesch kostümiert. Ein paar weniger bedeutende Männer gab´s natürlich auch. Merkel erzählte gerade von ihrer besonderen Beziehung zur Stadt Hannover, weil sie im Zoo einen Patenpinguin namens Helmut habe, was auf der Bühne und im Publikum großes Gelächter hervorrief. Es fing dann aber an zu regnen, die Leute spannten ihre Schirme auf, ich konnte nicht mehr auf die Bühne schauen und ging zum Telekomshop, wo sich eine Entsperrung mangels Kenntnis meiner eigenen Handynummer als unmöglich rausstellte. Was aber gut so war. Denn ich erfuhr so von der Existenz meiner PUK-Nummer zum kostenfreien Eigenentsperren, die ich später dann Zuhause tatsächlich auch noch irgendwo fand. Ein Symbol für Politik?
Dazu passt, dass ich im am Abend auf einem Blog auf den Begriff des Dudeismus in der Politik stieß. Der Dudeismus vereint die friedliche, über die ganze Welt verstreute Anhängerschar des Dude. Der Dude - im Kultfilm The Big Lebowski dargestellt von Jeff Bridges - ist ein aus der Zeit gefallener Hippie, der die passende Lebensform für sich gefunden hat und diese nur widerstrebend verlässt, wenn ihm jemand auf seinen Teppich pisst. Zitat aus dem Blog: "Der Dude verkörpert mehr als ein Lebensgefühl. Er hat die Politik aus seinem Leben ausgesperrt. Ich glaube, nach dem Wahlabend des 22. September wird der Dudeismus auch in Deutschland Fuß fassen. Es scheint sich um die einzige Lebensform zu handeln, die einem derartigen Wahlergebnis gewachsen ist. Man möchte nur noch bowlen, einen Joint rauchen und im Ford Gran Torino Lookin out my back door hören."
Wenn ich heute darüber nachdenke, erscheinen mir Angela Merkel, Ursula von der Leyen und die anderen "alten" CDU-Frauen auf der Bühne doch eher als eine Umkehrung der lachenden, alten Hexen aus Kertsch oder deren Pervertierung. Warum? Weil sie nicht den schwangeren Tod, sondern totes Leben symbolisieren? Weil alles an ihnen ruhig und still ist, auch wenn sie sich darum bemühen, die Leute ein wenig zu belustigen? Sie vereinigen fesch kostümiertes Fleisch, das Leben vorspiegelt und doch schon dem Zustand der Verwesung anheimgefallen ist. Das Leben als ambivalenter Prozess, der in sich widersprüchlich ist, wird durch sie verdeckt. Es fängt an zu regnen und man fühlt sich trostlos. Wenn man Glück hat, findet man aber Zuhause die PUK-Nummer zum Eigenentsperren.
Bachtin beschreibt wie die Kultur des "grotesken Körpers" im Zuge des Bürgerlichen Zeitalters langsam verflachte. Wie Körper und Gegenstände langsam anfingen, einen privaten Charakter anzunehmen; wie sie domestiziert, verflacht und zu bewegungslosen Elementen des privaten Alltags, zu Objekten des Besitzes und egoistischer Wünsche verkamen. Das Unten sei nun nicht mehr positiv und erneuernd, so Bachtin, sondern ein dumpfes, starres Hindernis für alle idealen Bestrebungen. In der privaten Lebenssphäre entfremdeter Individuen behielten die Motive des Unterleibs das negierende Moment, doch verlören sie fast völlig ihre positive, erneuernde Polen; ihre Verbindung zu Kosmos und Erde werde unterbrochen und sie degenerierten zu naturalistischen Sittenschilderungen.