Vorne die Braut in ihrem romantischen weißen Spitzenkleid mit der Schleppe. Ist weiß nicht die Farbe der Unschuld? Wie dem auch sei, das Standesamt kann sich für heute die Bodenreinigung sparen. Neben der Braut zappelt ihr einjähriges Kind, das alle Gäste zuckersüß finden. Das Kind ist sein zweites, denn sein erstes Kind weilt in den Himmeln, wohin es der Engelmacher transportiert hat. Streng genommen wäre das heute auch seine zweite Ehe, aber wer nimmt hier heute irgend etwas streng. Wir weilen im Gebiet der Toleranz für alles und alle und jede Verhaltensweise. Bräutigam hat sich jedenfalls konservativ in einen beigefarbenen Anzug geworfen, weil er seiner Mutter beweisen will, dass Hippiewerte heute als spießig gelten.
Die ist aber gar nicht gekommen oder vielmehr wieder nach Hause gefahren, denn sie kann sich nicht freuen, wenn ihr erster Mann, ein Hochstapler, welcher nie an einer einvernehmlichen Trennung interessiert gewesen ist, an diesem Ehrentag mit seiner dritten Frau kommt. Diese ist aber die Mutter seines zweiten Sohnes, so dass eine Versöhnung der Bräutigamsfamilie ausgeschlossen bleibt, insofern man Wiederheirat als Versöhnung betrachtet, und das sollte man doch, oder nicht?
Auch die Brautmutter fühlt sich eigentlich nicht glücklich, wenn ihr ehemaliger Mann , ein Sozialhilfebetrüger, ausgerechnet heute, an diesem Ehrentag, strahlend mit seiner Geliebten aufrauscht, einer Rivalin der Mutter. Wer um alles in der Welt hat diese Frau, die doch streng genommen nicht zur Familie gehört, für heute ein- oder zumindest nicht ausgeladen? Was für eine Erniedrigung der Brautmutter, was außer ihr aber niemand erfühlt. Es fehlt an Einfühlungsvermögen, an Sitte, an allem. Mutter schenkt Leben. Es fehlt auch an Bewusstsein für das Leben.
Gehört oder gehört die Halbschwester des Bräutigams mütterlicherseits nun zur Familie oder nicht? Auf alle Fälle gehört sie nicht ins Haus des ersten Mannes der Mutter des Bräutigams und seiner dritten Frau, findet die Hippiemutter, und als der Bräutigam durchdreht und seine Mutter beinahe verprügelt, so wie weiland der Papa, droht die Szene zu eskalieren.
Heute, ja, heute, an diesem besonderen Tag, wollten sie alle gern auf Friede-Freude-Eierkuchen umschalten. Zu diesem Zweck hat sogar der geschiedene Mann der Mutter des Bräutigams eine Auto-Rallye hinter ihr her durch die halbe Stadt veranstaltet und, wie immer, wollten sie die Frau zu etwas zwingen, was diese nicht gut fand, nämlich an der traurigen Veranstaltung teilzunehmen. Der Vater des Bräutigams hat zu diesem Zweck sogar eine Vaterliebe entwickelt, wie man sie in vierunddreißig Jahren an ihm nicht gesehen hat und er hat gemerkt, dass etwas fehlt, wenn die Mutter nicht dabei ist. Aber zu spät. Als Haremsdame mochte sie nicht kommen und überhaupt sind da noch ein paar alte Rechnungen offen, die er sowohl vor als auch nach der Hochzeit seines Sohnes unter keinen Umständen begleichen will. Also verflucht sie ihn eben und das vierunddreißigjährige Kind weint. Wen hat das je interessiert? Im Scheidungskrieg war es doch schon immer wichtig, sich selber zu behaupten. Wer denkt schon an die Kinder, wer denkt schon an die Mütter? Hauptsache, jeder denkt an sich.
Zwei Scheidungskinder haben sich gefunden und den Bund des Lebens miteinander geschlossen. Nicht die Fehler der Eltern wollen sie machen. Nicht dieselben jedenfalls.
Onkel, Tanten, Cousinen, erste, zweite, dritte Frau, Ehemann Nr. 1 bis 4 und die Halb-, Stief- und Lebensabschnittsgeschwister stellen sich auf zum Gruppenfoto: Bitte recht freundlich.