Weggehen 6

Text zum Thema Gesellschaft/ Soziales

von  Ganna

Den ersten Winter verbrachten wir in der Dienstmädchenkammer des Hotels, in dem ich arbeitete. Es war ein durch einfache Bretter abgeteilter etwa 30 m2 großer Raum, mit einer Duschecke, einem Herd, Kühlschrank, mehreren Betten, einem Ofen und elektrischem Strom. Dort kamen wir unter.
Meine neuen Freunde starteten eine Holzaktion. Mit einfachen Handsägen gingen alle in den Wald und machten Holz für mich, während ich mein kleines Kind hütete und für alle Essen kochte. Später brachten mir meine Nachbarin Nicole und ihr Mann noch eine große Fuhre Brennholz. So hatten wir es den Winter über warm.
Dieselbe Nachbarin brachte mal ein ofenfertiges selbstgeschlachtetes Huhn, ein anderes Mal Kuchen vorbei. Andere Freunde versorgten mich mit Wein. Irgendwie kamen wir über die Runden.

Erst einmal war Winter. Schnee fiel. Viel Schnee, so viel, wie hier selten fällt, wie nur alle 20 Jahre einmal. Über Nacht hüllte er alles in eine dicke, weiße Schicht, verbarg Straßen unter sich und Wege und machte die Landschaft eben und gleich. Das Gewächshaus des Hotels brach schließlich unter der Schneelast zusammen. Strom gab es nicht mehr und Telefon fiel ebenso aus. Und dann geschah gar nichts. Eine große Stille legte sich über das weiße Land, über dem sich eine strahlende Sonne erhob. Das Leben machte Pause.
Früh klopfte es an unsere Tür. Ein Nachbar hatte sich mit seiner Müllschaufel einen Pfad bis zu unserem Eingang gegraben und fragte nun, ob wir auch alles Nötige im Haus hatten. Vielleicht brauchte ich Milch? Oder Eier? Alle Dorfbewohner schaufelten sich schmale Pfade zu Nachbarhäusern und standen dann den lieben langen Tag beieinander, um ausgiebig zu tun, wozu sie sonst wenig Zeit hatten. Sie schwatzten miteinander.
Schneeräumgeräte gibt es nicht. Da es nur alle paar Jahre schneit, lohnt deren Anschaffung nicht. Man wartet einfach, bis die Temperaturen wieder ansteigen, der Schnee taut und die Straßen von selbst frei werden. Dann geht auch das Leben weiter, die Kinder werden wieder in die Schule gefahren, das Bäckerauto bringt mittags Baguette und Post wird auch wieder ausgetragen. Solange aber der Schnee liegenbleibt, kommen alle gut ohne diese Einrichtungen aus.

Ich putzte weiter, wenn es etwas zu tun gab und das war im Winter merklich weniger als im Sommer. Das Putzen war nun die Gegenleistung für die Miete. Daneben gab mir die Hotelbesitzerin die Reste des Essens, das sie für ihre Gäste kochte. Damit war meine Arbeit abgegolten. Dachte sie. Je näher der Frühling rückte, umso mehr Hotelgäste gab es und langsam wurde mir klar, dass meine Arbeitgeber mir weiterhin keinen Lohn zahlen wollten. Schließlich wohnte ich ja bei ihnen. Ich konnte und wollte aber auf das Geld nicht verzichten. Und abhängig wollte ich auf gar keinen Fall sein, niemals mehr. Aus dieser Situation musste ich raus.

Der Schnee tat schließlich, was alle von ihm erwarteten und taute. Eine Freundin aus Deutschland, die sich schon seit Jahren als Magd auf Höfen verdingte, wo sie für Kost und Logis arbeitete,  meldete sich bei mir. Weil ich ihre Hilfe nötiger hatte als die Familie, bei der sie derzeit war, wollte sie zu mir übersiedeln.
Conny war meine Rettung. Für ein Jahr wollte sie bleiben. Am 1. April 1992 zogen wir mit Conny in die Wohnwagen. Ich war entschlossen, uns eine winterfeste Hütte zu bauen, denn in das Hotel wollte ich nicht wieder zurück müssen. Eine andere Möglichkeit sah ich nicht.

Meine Voraussetzungen, solch ein Unterfangen zu bewerkstelligen, waren weniger günstig. Noch niemals hatte ich mich mit derartigen Dingen beschäftigt, nie hatte ich solches geplant. Irgendwie bekam ich Nägel in eine  Wand und irgendwie hatte ich auch meine Wohnungen selber renoviert, aber eine Behausung bauen? Ich fragte also Männer und dachte, sie könnten mir raten. Der erste meinte, ich solle eine Erdhöhle graben, das könne jeder. Ich stellte es mir aber sehr schwierig vor, das Problem des Wassers zu lösen, wenn der Sturzregen hier Hochwasser auslöst. Auch wollte ich nicht unter der Erde leben.
Der zweite meinte, ein Mensch alleine könne kein Haus bauen, das ginge nicht. Wahrscheinlich dachte er „Frau“ und nicht Mensch. Der Dritte kam vorbei, um an den Pfosten des Ziegenstalles zu rütteln und mir dann zu sagen, ich solle mir ein Armeezelt hinstellen. Nein, auch in einem Zelt wollte ich nicht leben.
Allen war klar, Frauen bauen keine Häuser.

Hausbau ist eben Männersache, ebenso wie Holzschlagen, Wildschweinjagen und Gartenarbeit. Die Frau bleibt im Haus und beschäftigt sich mit den Kindern, der Wäsche und dem Essenkochen. So ist die Ordnung, die Regel und so läuft hier das Leben. Was aber, wenn eine Frau keinen Mann hat? Dann muss sie sich einen suchen, der sie versorgt. Das wird nicht weiter schwierig sein, denn in dieser Gegend gibt es einen Überschuss an alleinlebenden Männern, junge, alte, schöne und hässliche, mit großen Höfen und ohne, je nach Geschmack. Die Nachbarinnen von mir durchforsteten Heiratsanzeigen und schlugen mir diesen und jenen schmucken Hofbesitzer vor. „…und der hat Alles!!“ priesen sie mir ihre Favoriten an. Sicher wäre dies eine praktische Lösung gewesen, aber eine, die ich mir nicht näher vorstellen wollte. Nach meinen kürzlichen Erlebnissen stand mir nichts ferner, als ein neuer Mann.

Ich musste also selber bauen, irgendwie. Die Voraussetzungen sahen weniger günstig aus. Geld besaß ich keines, ein Auto ebenso nicht. Ich hatte nie Autofahren gelernt und nicht einmal eine Fahrerlaubnis. Und vom Bauen hatte ich keine blasse Ahnung. Und meine Körperkraft war eher mäßig.

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Kommentare zu diesem Text


 susidie (09.05.14)
Deine Erzählungen sind so interessant, traurig, spannend und es spiegelt sich so viel Erfahrung darin, Erfahrung, die einen einerseits richtig runterzieht im Mitfühlen, andererseits aber auch so vieles beinhaltet, was Sinn macht. Hier lese ich so viel von Freundschaft, von Zusammenhalt, von Helfen in der Not. Auch die Schilderung wie das Leben anhält durch den Schneefall, wie die Menschen sich verhalten. Ich finde deine Darstellung fantastisch, ohne Pathos, ohne Selbstmitleid und doch alles mit untrüglichem Gefühl geschrieben. Ich lese deine Geschichte sehr, sehr gerne.
Einen lieben Gruß zu dir von Su :)

 Ganna meinte dazu am 10.05.14:
Liebe Su, Dein Kommentar freut mich sehr! Es war eine Zeit, auch wenn sie schwer war, an die ich mich gerne erinnere...eine Zeit der Wandlung und Wandlungen vollziehen sich nicht ohne Schmerzen...

Ich danke Dir,
LG Ganna

 Jorge antwortete darauf am 12.05.14:
Su spricht mir mit ihrem Kommentar aus dem Herzen.
Welch ein schier aussichtsloses Unternehmen galt es zu stemmen.
LG Jorge
LancealostDream (49)
(10.05.14)
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 Ganna schrieb daraufhin am 10.05.14:
...ich schreibe demnächst, wie ich die Hütte gebaut habe...doch vielleicht schiebe erst noch einen anderen Teil dazwischen...

LG Ganna
Gringo (60)
(10.05.14)
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 Ganna äußerte darauf am 11.05.14:
Liebe Gringo,

ich habe all Deine Kommentare gelesen und sie haben mir die Tränen in die Augen und so...

Ja, ich habe schon irgendwie die Absicht, es zu veröffentlichen, nur stehe ich vor einem Sammelsorium an Texten...es sollte auch die eigentlichen Wurzeln des Ausstiegs aus der Gesellschaft hinein...also Missbrauch, meine Zigeunergroßmutter, das Nichtheimischwerden im gesellschaftlichen Gefüge usw...es sollte letztlich aus der privaten Ecke raus... und ich sehe noch nicht, dass es sich zusammenfügt...

Vielen Dank, Du machst mir Mut und ich schreibe weiter, gerade beginnt es, auch mich zu packen,
liebe Grüße von Ganna

 susidie ergänzte dazu am 13.05.14:
Liebe Ganna, ich weiß, ich habe hier schon kommentiert. Möchte aber gerne nochmal Gringos Zeilen unterstreichen, weil ich genauso denke. DAS IST EIN BUCH WERT. Wieviele unsinnige Memoiren werden auf den Markt geworfen. Von jungen Leuten, die irgendwie nen schnellen Euro machten und eine kurzfristige Berühmtheit erreichten. Das aber, was du zu berichten hast, ist gelebtes Leben in allen Schattierungen. Sich suchen, sich finden, bei sich bleiben, die gesellschaftliche Komponente, ach, es steckt so unendlich viel in deinen Texten, was mich fasziniert und ebenso neugierig macht, wie es weitergeht. Und - du kannst schreiben - ganz wunderbar fügt sich alles zusammen in deinen Texten. Und ich bin mir sicher, dass du dein Sammelsurium an Texten auch zusammenfügen kannst in die Richtung, wo du es hinhaben möchtest.
Das wollte ich nur nochmal gesagt haben.
Vor allem aber, dir weiterhin viel Freude am Schreiben.
Liebe Grüße von Su :)

 Ganna meinte dazu am 14.05.14:
Liebe Su,

ich danke Dir fürs Mutmachen!

...bin dabei und schreibe weiter, jetzt kann ich auch nicht mehr aufhören, bin ich an dem Punkt, wo es sich von selbst schreibt...es wird sich zeigen, was daraus entsteht...

LG Ganna
Sätzer (77) meinte dazu am 01.09.15:
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 Ganna meinte dazu am 02.09.15:
Danke für Deinen Kommentar...das Buch ist fertig, es kann als e-book erworben werden...inzwischen interessiert es mich weniger, das Thema ist abgearbeitet, gelöst, überwunden, anderes steht an...ich schreibe als co-Autorin...

liebe Grüße
Ganna
Sätzer (77) meinte dazu am 02.09.15:
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Ingrid. (38)
(10.02.18)
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 Ganna meinte dazu am 17.02.18:
Liebe Ingrid,

ich habe die Texte und noch andere zusammengestellt und als Buch veröffentlicht, e book auf amazon und anderen Seiten, es heißt "Weggehen". Weil mir immer wieder begeisterte Leser begegneten, hatte ich es auch mehreren Verlagen angeboten, aber keinen gefunden, der sich dafür interessiert.

.....ja und es stimmt, das war die beste Erfahrung meines Lebens, es hat mich stark gemacht...obwohl, ich denke, es zeigt sich im Leben immer das, was schon in einem Menschen ist, bei den meisten Menschen ist es leider so, dass sich da nicht viel zeigen kann, weil die Gesellschaft die Möglichkeiten nicht gibt...heute würde ich immer noch sagen, selber machen, unabhängig sein und frei, darüber geht nichts...Angst, natürlich hat man Angst, doch die kann einem die Stadt und ein eintöniger Job auch machen, was langsam tötet ist deswegen nicht weniger gefährlich...ich glaube sicher, dass man das Leben dann am meisten spürt, wenn es einen berührt und das tut es nur, wenn es auch mit Gefahren verbunden ist...Sicherheit ist auf Dauer tödlich...die richtige Mischung macht es, haben wir unsere Kreativität denn nicht bekommen, um uns mit der Umwelt auseinanderzusetzen? Als schöpferische Wesen sollten wir auch schöpferisch sein.

...das ist schon merkwürdig...der Drang nach Freiheit findet seinen Ausdruck im Verlangen zu fliegen...ich bin noch als Schülerin Segelgeflogen...damals gab es in Friedersdorf nicht weit von Berlin die Möglichkeit dazu, vielleicht besteht es ja heute noch...wenn man es nicht beruflich machen möchte, plädiere ich fürs Segelfliegen, weil es still ist und man mit dem Wind zusammen arbeiten muss, das ist alles so nahe an der Natur, berauschend...

Wenn ich es richtig verstehe, dann gibst Du Flüchtlingen Sprachunterricht. Verstehe ich gut, dass Du der jungen Frau Mut machst, ihren eigenen Weg zu gehen. Ich kann mir die Situation nach Deiner Schilderung gut vorstellen, gleichzeitig taucht der Gedanke in mir auf, dass Deine Sehnsucht zu fliegen mit der ihren zusammen traf... Nun, die Informationen werden ihr vielleicht weiter helfen. Es ist sicherlich schwer, wenn man aus Afganistan kommt, in Europa klarzukommen. Ich nehme an, Du siehst die Frau regelmäßig, dann kannst Du ihre Entwicklung vielleicht verfolgen und sie ein Stück begleiten.

JEDE Prägung ist eine Beschränkung, auch die europäische. Jede Möglichkeit, die man nutzt, entfernt einen von anderen Möglichkeiten, die auch da sind.
Man kann einfach nicht alles umfassend ausprobieren und nicht alles leben. Ist die Sehnsucht zu fliegen stark genug, wird die junge Frau das unmöglich scheinende machen, auch gegen ihre Familie. Es gibt viele Beispiele von starken Frauen, kennst Du Alexandra David-Neel? Sie war als erster europäischer Mensch in Lhasa, der verbotenen Stadt und hat ein Buch über ihre abenteuerliche Reise geschrieben.

...inzwischen habe ich einiges glebt und stelle mein eigenes Denken immer wieder in Frage. Weshalb sollte eine Frau in ihrer Rolle als Mutter sich nicht ausgefüllt fühlen? Das ist eine der schwersten und verantwortungsvollsten Aufgaben überhaupt, einen Menschen großzuziehen. Und diese schwere Tätigkeit wird nicht geachtet und nicht entlohnt von unserer Gesellschaft. Kein Wunder, dass es viele Frauen vermeiden, Kinder zu bekommen...ich sehe es auch(!) als Verlust für alle Menschen, dass Frauen nicht mehr ausschließlich Mutter sein wollen und können. Sicher gibt es Frauen, für die das genau das Richtige ist und die nur so glücklich werden können.

...ein guter Leher kann keine Distanz wahren. Wir lernen doch am leichtesten von Menschen, die wir mögen. Insofern bist Du sicher eine gute Lehrerin, wenn Du Dich einfach menschlich verhältst und Deinen Schülern auch neben dem Unterricht beistehst und sie berätst. Klar, das ist sicher energie- und zeitraubend und wird natürlich nicht abgegolten. Dabei ist es so wichtig. Ich weiß auch nicht, ob man die menschliche Seite bei einem Lehramtsstudium gelehrt bekommt, glaube eher nicht, wahrscheinlich wird das nicht einmal berücksichtigt. Am wichtigsten ist es doch, ein guter Mensch zu sein, nur gute und aufrichtige Menschen können auch gute Lehrer sein. Wissen ist gar nicht so wichtig, das kann man sich irgendwie aneignen. Das bezieht sich aber irgendwie auf jeden Beruf, ob Arzt, Verkäuferin, Politiker... Menschsein ist wichtig und das scheint mir verloren zu gehen, wenn ich mir die Jugendlichen so anschaue, die nicht mehr miteinander reden und ihre Aufmerksamkeit auf ihre Smartphones richten...wir leben schon in einer komischen Zeit...

Liebe Ingrid, ich weiß nicht, ob Dir mein Geschreibsel hier was sagt...ich habe den Eindruck, nachdem ich Dich gelesen habe, Du machst das schon richtig, Dir selber vertrauen...wer auf sich hört und sein Gefühl, sich menschlich verhält, der kann nicht viel falsch machen.

....ich danke Dir für Deine ausführlichen Kommentare, lg Ganna
Ingrid. (38) meinte dazu am 19.02.18:
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 Ganna meinte dazu am 19.02.18:
Liebe Ingrid,

Danke für Deine Worte. Ich weiß gerade nicht, wie es bei mir weitergeht und da spielt das Schreiben eine weniger große Rolle...also mal schaun, was das Schicksal so bringt und das Leben noch so mit mir vor hat...

...ich habe den Eindruck, vieles ändert sich auf der Welt und in Europa, und unsere Zeit geht Stürmen entgegen, denen ich etwas hilflos gegenüberstehe, immer wieder gilt es, den eigenen Platz neu zu bestimmen und den habe ich für den Moment noch nicht gefunden...

liebe Grüße aus Südfrankreich,
Ganna
Ingrid. (38) meinte dazu am 23.02.18:
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Ingrid. (38) meinte dazu am 24.02.18:
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