Weggehen (1)

Text zum Thema Aufbruch

von  Ganna

Niemals war mir ernsthaft der Gedanke gekommen, ins Ausland überzusiedeln. Innerhalb Deutschlands aber war ich schon öfter umgezogen, immer nach dem idealen Lebensraum suchend und eine Verbesserung in der Lebensqualität erhoffend.

1989 zur Zeit der Wende, als alles drunter und drüber ging im Osten, sich die alten Strukturen auflösten und die neuen sich noch nicht gefestigt hatten, befand auch mein Leben sich im Umbruch. Ich war mit meinem dritten Kind schwanger.
Damit war es nicht möglich, eine feste Arbeitsstelle zu ergattern. Die Jahre vorher hatte ich als freischaffende Grafikerin mein Geld verdient. Das Wort „freischaffend“ kennzeichnet keinen Zustand völliger Unabhängigkeit. Auch als Freischaffende bewegt man sich mehr oder weniger in einem Kreis fester Auftraggeber, die immer wieder auf einen zukommen, hat sich die Zusammenarbeit einmal bewährt. Ich arbeitete für Buchverlage, kleine Betriebe, auch mal einen privaten Kunden oder öffentliche Auftraggeber. Nun aber wusste keiner, wie es weiter ging. Die Verlage in der DDR konnten ihre Bücher nicht mehr absetzen, die gesamte Schulbuchproduktion stagnierte, alte Verträge wurden ausbezahlt und kamen zum Erliegen, neue Aufträge wurden nicht erteilt.

In mir wuchs ein prächtiges Kind heran, während sich die Gesellschaft neu formte, die Grundstückspreise explodierten und jeder versuchte, irgendwie mit dem Arsch an die Wand zu kommen.

Wir waren im Sommer 1989 auf einen sich im Zerfall befindlichen Hof in das Havelland gezogen, abgelegen hinter einem Übungsplatz der Russen gelegen, der nur überfahren werden durfte, wenn die Schranken unten waren. Wer in die andere Richtung kommen wollte, musste die Fähre über die Havel nehmen. Das ganze Ensemble wurde durch die Anwesenheit eines Atomkraftwerkes in nicht zu weiter Entfernung abgerundet.

Die Landschaft war wundervoll, die Stille berauschend.
Wie auf einer Insel lag das Dorf „Neuwartensleben“. Zurückgelassen und fast vergessen verstreuten sich einige Höfe zwischen Feldern und Flusswiesen, durch staubige Wege miteinander verbunden, über die ein Duft von bunten Kräutern lag. Hier schien jeder auf seine Weise auf ein Leben danach zu warten, hoffnungsvoll oder resignierend vom Geschrei der Fluggänse am grauen Himmel begleitet.

Freunde, denen der Hof gehörte, wollten ihn uns vor der Wende billig verkaufen. Land und Haus waren im Osten unvorstellbar billig gewesen. Die veränderte Situation, die sich mit dem Mauerfall einstellte, ließ sie den Verkauf neu überdenken und uns, die wir dort schon wohnten, in einer unerklärten und unsicheren Situation. Voller Tatendrang und in diesem gebremst, da sich die Besitzer zu keiner Klarheit bereitfanden, brachte ich mein Kind zur Welt. Zwischen Haushalt und Stillen, der Beschäftigung mit den älteren Kindern und der Gartenarbeit, suchte ich nach einer Lösung für uns. In ganz Deutschland suchte ich nach einer Alternative und diese sollte unbedingt auf dem Land sein, die Möglichkeit eines eigenen Gartens einbegriffen. Es war nichts zu finden, was unseren finanziellen Möglichkeiten entsprochen hätte.

Wir zogen also in einen Plattenbau nach Berlin Marzahn in ein 11. Stockwerk. Statt auf Fluggänse am weiten Himmel blickten wir nun auf Beton und Autos. Ständig klingelten Menschen an der Tür, die einen etwas Unsinniges verkaufen wollten und die Nachbarn grüßten nur verhalten oder gar nicht.

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Kommentare zu diesem Text


 susidie (29.03.14)
Ein sehr interessanter Text, der einen die Situation der damaligen Zeit förmlich spüren lässt. In diesem einen kleinen Absatz steckt schon unheimlich viel:

In mir wuchs ein prächtiges Kind heran, während sich die Gesellschaft neu formte, die Grundstückspreise explodierten und jeder versuchte, irgendwie mit dem Arsch an die Wand zu kommen.

Diese abgelegene Landschaft muß wundervoll gewesen sein. Nur das Atomkraftwerk in der Nähe, puuuuuh :(
Allerdings stelle ich mir den Plattenbau, Berlin-Marzahn, 11. Stock am grausamsten vor nach dem Leben in stiller Natur.
Dein Text lässt mich mit Spannung auf eine Fortsetzung warten.
Liebe Grüße von Su :)

 Ganna meinte dazu am 30.03.14:
...die Lage von Neuwartensleben war wundervoll, aber auch kurios, so eingekesselt...und der Plattenbau hinterher ein Schock,

Danke fürs Sternchen,
LG Ganna

 Jorge (30.03.14)
Weggehen (1) zeichnet in gewohnter Weise Landschaft in gekonnter Sprache aber auch die Befindlichkeit der Menschen in dieser Wendezeit.
LG Jorge

 Ganna antwortete darauf am 31.03.14:
Danke, auch für das Sternchen,
LG Ganna

 EkkehartMittelberg (30.03.14)
liebe Ganna,
ich kann mir die gefährdete Idylle in Neuwartensleben sehr gut vorstellen und auch das Gegenteil davon in dem Plattenbau.
Andere hätten hier mit der kritischen Keule ganz anders ausgeholt. Du deutest nur an und lässt dem Leser Spielraum, seine Vorstellungen zu entwickeln. Das ist es, was ich u. a. an deinem leisen Stil so schätze.
Ich freue mich auf die Fortsetzung.
Liebe Grüße
Ekki

 Ganna schrieb daraufhin am 31.03.14:
Danke, Ekki, freue mich, dass Du es so siehst,
LG Ganna
Mirror (41)
(17.04.14)
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 Ganna äußerte darauf am 17.04.14:
...sehr gerne...wenn es mir nur nicht so schwer fallen würde...

 Regina (17.04.14)
Beton und Autos sind das Gegenteil von Lebensqualität. Das hast du in Berlin erfahren.
Gringo (60)
(10.05.14)
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Sätzer (77)
(16.08.15)
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 Ganna ergänzte dazu am 17.08.15:
...es sind die Gegensätze, die für Lebendigkeit sorgen und doch heimlich nach Ausgleich streben...

...interessant für mich zu lesen, wie der Text auf Dich wirkt...andeutend, leise...so habe ich hin nicht gesehen...

Danke Dir für das Sternchen
lg Ganna
Sätzer (77) meinte dazu am 17.08.15:
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