Weggehen 4

Text zum Thema Abenteuer

von  Ganna

So hatte ich mir den Neuanfang nicht vorgestellt, etwas gemäßigter hätte er sein dürfen. Aber eine Wahl hatte ich nicht. Mein Extremausstieg geschah nicht, weil er so geplant war. Das Geschehen hatte sich aus sich heraus in einer Art entwickelt, die ich nicht vorausgesehen hatte.
Ich hatte noch versucht, mit meinen Kindern in einem Berliner Frauenhaus unterzukommen, was aber erfolglos blieb. Sie meinten, mein Fall wäre nicht gravierend genug. Wahrscheinlich musste man schon Grade der Verwesung zeigen, um dort aufgenommen zu werden, ein einfacher, versuchter Totschlag reichte nicht aus. Wahrscheinlich war aber auch, dass ich noch einen zu guten Eindruck hinterließ und sie dachten, ich würde es schon allein schaffen.

Die ersten Wochen befand ich mich in einer Art Schockstarre. Weder Verzweiflung, Trauer oder Wut konnte ich empfinden. Ich fühlte einfach gar nichts und tat, was ich tun konnte. Erst langsam begriff ich meine Situation.

Dann aber entdeckte ich auch eine gewisse Faszination an meiner Lage. Stell dir einmal vor, du hast nichts. Du stehst auf einem Stück Land inmitten wilder Natur und willst überleben. Alles was dir bleibt, liegt in dir selbst, in deiner Kraft, Kreativität, in der Fähigkeit, angesichts deiner Situation nicht zu verzweifeln und in der Zuversicht, dass alles sich zum Besten entwickeln werde. Du hast nichts und das bedeutet, alle Möglichkeiten liegen offen vor dir.
Eine solche Situation muss dich in ungewohnter Weise herausfordern und alle deine Fähigkeiten zutage fördern. Andererseits bist du allein für alles verantwortlich. In keine Strukturen eingebunden gibt dir weder ein Amt, noch ein Chef, noch ein Familienmitglied Rat und Anweisung. Das ist nicht nur ein Zustand, der erschreckend wirken kann, sondern ebenso sehr befreiend. Ich war an dem Punkt, wo ich ganz ich selbst sein konnte. Es gab nur noch mich und meine Kraft. Und das eröffnete mir die Freiheit selbst. Ich war frei, ich selbst zu sein, plötzlich und unerwartet. Dieses Bewusstsein ließ Energie in mir wachsen, eine Energie, die mich nicht nur tätig machte, sondern auch mit Glück erfüllte.
Dies bemerkte ich selbst voller Staunen. Als ich mitten im Regen in Gummistiefeln den lehmigen Weg zu mir entlangstapfte, begann ich für mich selbst unerwartet aus vollem Halse zu singen, vor Glück, frei und ich selbst sein zu dürfen.

So etwa muss sich Robinson gefühlt haben, dachte ich. Diese Geschichte seines Überlebens auf einer fremden Insel hatte mich schon als Kind fasziniert. Einmal alles so machen können, wie man es will! Schöpfen aus dem, was ist, auf die Art und Weise, wie es der eigenen Schöpferkraft gefällt. Es muss möglich sein, mit der Natur allein zu überleben, denn die Menschen vor 2000 Jahren taten es auch. Auch heute noch wäre so manch armer Mensch auf dieser Welt froh, ein Stück Land zu besitzen. Und ich hatte mehr als das.
Die wesentlichen Dinge waren vorhanden, eine Quelle, deren Wasser wir tranken, ein Fluss, in dem wir badeten, ein Wald, aus dem wir unser Holz zum Feuermachen und Kochen holten und eine ehrfurchtgebietende Natur, voller essbarer Pflanzen, die es zu entdecken galt.
Ich fühlte mich stark und voller Tatendrang. Genauso wie Robinson, der sich von dem gekenterten Schiff  mit Werkzeug, Waffen und Munition versorgte, besaß auch ich für das Erste eine gewisse Grundausstattung, zwei Wohnwagen, Bettzeug, etwas Geschirr und sogar einige Gartengeräte waren vorhanden. Und genauso wie Robinson würde sich später ein „Freitag“ zu mir gesellen, aber das wusste ich anfangs natürlich nicht.

Mit einem Schlag waren wir über unser Dorf hinaus bekannt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Geschichte mit dem Mann, der mit der Axt auf seine Frau losging und sie dann mit den Kindern ohne Geld sitzen ließ, verbreitet. Wenn ich mich zum Trampen an die Straße stellte, hielt jedes Auto an, um mich mitzunehmen.

Und plötzlich sah ich mich umgeben von freundlichen, verständnisvollen und hilfreichen Menschen. Überall wohnten sie hinter Büschen verborgen im Caravan, VW-Bussen und Zelten, mit Familie oder alleine, mit Hund und Katze und Hühnern. Wie ich schlugen sie sich mit Gelegenheitsjobs durch und hatten keine Aufenthaltsgenehmigung, also keinerlei Hilfe von Ämtern, wenn es sich um Deutsche oder Engländer handelte. Sie wussten, wie man ohne feste Arbeit, Versicherung und amtliche Absicherung lebt.
Ohne es gewollt zu haben, fiel ich in die Gruppe der Aussteiger ohne Kompromisse, der Leute, die ohne über ein finanzielles Polster zu verfügen die Gesellschaft verlassen, um auf eigene Verantwortung ihr Leben zu meistern. Vordem hatte ich keine Ahnung davon gehabt, dass es solch mutige Menschen gibt und nun gehörte ich plötzlich zu ihnen.

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Kommentare zu diesem Text

janna (66)
(01.05.14)
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 Ganna meinte dazu am 02.05.14:
Danke, freut mich,

mit lieben Grüßen
Ganna
Gringo (60)
(10.05.14)
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Sätzer (77) antwortete darauf am 20.08.15:
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 Ganna schrieb daraufhin am 21.08.15:
...ich glaube, wir haben sehr viel mehr Kraft und Fähigkeiten, als wir selber für möglich halten...diese werden in schwierigen Situationen etwas sichtbarer und dann staunen wir...denk nur an all die Menschen, die den zweiten Weltkrieg überlebt haben, oft unter schlimmsten Bedingungen, ausgebomt, ohne Essen, verwundet und dann noch mit kleinen Kindern, die zu versorgen waren, keine Zukunft vor Augen usw...heute vergessen...

...freut mich, wenn Du es gerne gelesen hast...

lg Ganna
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