Weggehen 2

Text zum Thema Alles und Nichts...

von  Ganna

Nachdem wir dort angekommen waren, entwickelte sich alles sehr gut. Die Angler aus dem Dorf verlegten ihre Angelplätze uns gegenüber vom Fluss, um zu schauen, wer sich denn dort niedergelassen hatte. Andere Leute lenkten ihre Schritte auf Spazierwegen geradewegs durch unseren Wald. Und so ergab sich das eine und andere Gespräch. Wir lernten die Nachbarn kennen, Meinungen bildeten sich und wir wurden gebraucht. Bald hatte ich einen Putzjob im Hotel und mein Mann konnte im Nachbardorf beim Bauen helfen. Es war Arbeit nach Bedarf, ungeregelt und schwarz, doch von solcher Art Tätigkeit lebte hier der Großteil der Bevölkerung. Daran hat sich auch bis heute nicht viel geändert.

Bei meinem Mann zeigten sich jedoch immer mehr merkwürdige Verhaltensweisen. Immer wieder dachte er sich neue Gründe aus, um nach Deutschland zu seiner Mutter zu fahren. Das kostete nicht nur viel Geld und Zeit, sondern hinderte ihn daran zu tun, was er ursprünglich vorgehabt hatte.
Wenn er dann hier war, begann er wie wild, Stacheldrahtzäune durch den Wald zu ziehen, dort, wo niemand Zäune brauchte. Abends betrank er sich mit Rotwein und entfachte riesige Feuer. Einmal des Nachts verbrannte er unsere Stühle. Ich begriff langsam, dass er offenbar zum Wahnsinn neigte und wusste nicht, was ich hätte tun können. In meiner Ratlosigkeit sah ich allem zu und hoffte, er möge sich wieder fangen. Das tat er mitnichten, denn seine Aktionen wurden gewalttätiger. Er begann den Ziegenstall zu demontieren und Freunde mit dem Messer zu bedrohen. Zunehmend redete er wirr und erging sich in Beschimpfungen, so dass sachliche Gespräch nicht mehr möglich waren. Ich versuchte, alles irgendwie in Form zu halten und die notwendigen Dinge zu tun. In meinem Inneren beschäftigte ich mich ständig damit, eine Erklärung für seine Probleme zu finden und somit eine Lösung für die unseren. Offenbar war er mit der Situation überfordert, jedoch erklärte er weiterhin, hier würde sein Betätigungsfeld liegen, und eine solche wie die unsere wäre die richtige Lebensweise.

Schließlich tötete er unseren Hahn, beschmierte sich mit seinem Blut das Gesicht und stürzte mit erhobener Axt brüllend auf mich zu, er würde mich erschlagen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er es tun würde. Das erste Mal im Leben verspürte ich Todesangst und sah mich mit gespaltenem Schädel auf dem von der Sonne ausgedörrten Boden liegen.
Doch es war noch nicht so weit, es war noch nicht an der Zeit für mich zu gehen, erst sollte ich eine wesentliche Erfahrung machen, die wesentlichste Erfahrung meines Lebens. Zufällig anwesende Urlauber, die zufälligerweise als Pfleger auf einer psychiatrischen Station im Krankenhaus arbeiteten, warfen sich vor mich und retteten mir das Leben. Sie kannten solche Verhaltensweisen und Zustände an ihren Patienten und waren geübt im Umgang darin.

Es erfolgten endlos lange, ergebnislose Diskussionen aus denen nicht hervorging, was er eigentlich wollte. Letztlich nahm er mir mein gesamtes Geld, sicherte sich auch mein Sparbuch, verlud alle mir nützlichen Werkzeuge und Geräte in unser Auto, nahm mit, so viel er hineinbekam und machte sich nach Deutschland auf zu seiner Mutter. Ich sollte nie wieder etwas von ihm hören.

Meine Wirklichkeit zerfiel in tausend einzelne Teile, nichts schien mehr zueinander zu passen. Ich konnte das, was passiert war, nicht einordnen, keine Erklärung finden und keine Lösung. Ich befand mich plötzlich in einem Zustand, der nicht vorhersehbar gewesen war. Ich saß mit den Kindern auf dem Sand, alleine ohne Auto, ohne Geld, ohne irgendeine Vorstellung, was ich tun könnte.
Plötzlich war ich von allem gelöst. Die Gegenwart war unfassbar, die Zukunft nicht auszudenken und die Vergangenheit stimmte nicht mehr so, wie ich sie noch kurz vorher gesehen hatte. Nichts, was vorher Geltung hatte, war noch existent. Meine Pläne hatten sich aufgelöst, alle Träume waren mit dem Wind verweht und meine finanzielle Sicherheit entschwunden. Nichts war mehr vorhanden. Einfach nichts.
Und so fühlte ich mich leer. Ich war nicht einmal fähig zu trauern, denn die Vergangenheit erwies sich als Irrtum, als Phantasie, als Gehirngespinst, um was sich nicht trauern lässt. Die Gegenwart war ebenso nicht fassbar. Aus einer relativ behüteten Wirklichkeit, materiell abgesichert, fiel ich geradewegs ins Nichts.

Die Realität traf mich ungeschönt mitsamt der bürokratischen Härte des Systems. Wer über keine Adresse verfügt, existiert nicht. Um Hilfe irgendwelcher Art zu erhalten benötigt man einen Wohnort, des Weiteren musste man damals als Deutsche in Frankreich eine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen. Da ich nichts hatte, konnte ich auch nichts bekommen, so einfach war das. Kein Amtsmensch, bei dem ich um Hilfe bat, öffnete sein Portmoney, um mir für Brot oder Nudeln einige Münzen zu geben. Dabei wäre dies so einfach gewesen.

Insofern fühlt man sich doppelt ausgeschlossen. Da ich nichts mehr hatte, gehörte ich nicht mehr dazu und weil ich nicht dazu gehörte, gab man mir auch nichts. Plötzlich verstand ich, weshalb Menschen betteln und sogar stehlen müssen, um zu überleben. Ihr Verhalten wird dann wiederum als Grund genommen, sie für kriminell zu erklären, für nicht sozialisierbar, weshalb sie bestraft werden.
Es gibt kein festgeschriebenes Kastensystem in Europa, im wirklichen Leben jedoch bestehen Grenzen,  durch Verordnungen, Anordnungen, Gesetzen und durch das gewöhnliche Verhalten der Menschen gestützt, die jedem seine Schicht zuweisen und dafür sogen, das er auch dort bleibt.

Mein Unglück konnte ich nicht voll auskosten, denn ich musste für die Kinder sorgen, den Kopf oben behalten und sehen, auf welche Weise ich das Leben wieder geregelt bekam. Alles hing von mir ab.

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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (22.04.14)
Ach ... was soll ich sagen, Ganna - ich liebe Deine Texte und hatte beim Lesen fast wieder das Atmen vergessen ...
Gut zu wissen, daß Du noch lebst.
Gruß
Lothar

 Ganna meinte dazu am 23.04.14:
...das Atmen?...nein, sag, dass Du übertreibst...

...ich lebe noch und sogar gut,
LG Ganna

 EkkehartMittelberg (22.04.14)
Ganna, eine schlimmere Erfahrung konntest du nicht machen, weil du keine Erklärung für sie hattest. Die Erzählung brennt sich deswegen ein, weil du sie ohne jedes Pathos schreibst.
Vermutlich wärest du auch wahnsinnig geworden, wenn nicht die Sorge um deine Kinder stärker gewesen wäre.

Liebe Grüße
Ekki

 Ganna antwortete darauf am 23.04.14:
...ich hatte keine Zeit, wahnsinnig zu werden und Erklärungen zu finden...aber was gibt es nicht alles Schlimmes auf der Welt, wir waren bei guter Gesundheit und ich konnte sicher sein, dass wir nicht verhungern würden, das ist schon viel wert, alles andere lässt sich regeln,
LG Ganna

 susidie (22.04.14)
Schnörkellos erzählt, unvorstellbare Realität. Dein Text beschäftigt mich. Der Vergleich mit einem Kastensystem ist tatsächlich nicht aus der Luft gegriffen. Aber, die Kinder sind da, es muss weitergehen. Der Kopf muss oben bleiben. Uff :( Der Text ist wirklich Alles oder Nichts, ein bisschen geht hier gar nicht.
Liebe Grüße von Su :)

 Ganna schrieb daraufhin am 23.04.14:
...wohl eine Erfahrung, die nicht allzuoft gemacht wird...doch in anderen Teilen der Welt kann das Leben sehr viel schwieriger sein, in Europa braucht man weniger Angst zu haben,
LG Ganna
Gringo (60)
(10.05.14)
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 Dieter_Rotmund (27.02.22, 18:01)

...verlegten ihre Angelplätze uns gegenüber vom Fluss

Bitte was?
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