Die Gratulation zum Geburtstag verlief bescheiden, wie immer und die Worte rochen nach Pflicht: "Herzlichen Glückwunsch und alles Gute zum Geburtstag wünscht Fam. Eusebius Pfannenbusch."
So - das wäre dann auch erledigt ...
Aber es war nicht erledigt. Seinen Verpflichtungen bloß nachzukommen schien mir schon immer verdächtig nahe beim Ignorantentum zu liegen. Genügte das Hören allein, würden selbst Tiere beim Abspielen von Tonträger davon ergriffen, was nicht der Fall ist. Es mußte also noch etwas dazu kommen.
So etwa dachte ich, nachdem ich wieder einmal jemandem auf die stereotype Art gratuliert hatte.
Dann fiel mir plötzlich etwas ein, was inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück lag. Damals auf der Grundschule, die ersten zwei oder drei Jahre wurden für das jeweilige Geburtstagskind von den übrigen Schülern gemeinsam ein Lied gesungen, ein "Ständchen", wie es hieß, dargebracht:
"Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen; Gesundheit und Wohlstand sei auch mit dabei!"
Weil die Klasse aus etwa 28 Jungen und Mädchen bestand, wurde das Lied ca. 24 mal im Jahr gesungen - weil ja auch welche am selben Tag geboren waren. Eine hatte in den Ferien Geburtstag ...
Das Besondere dabei: der oder die Geburtstaghabenden wurden vom Lehrer nach vorne gerufen und der Rest der Klasse stimmte den sogenannten Kanon an, dh. die Hälfte der SchülerInnen begann mit "Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen" und während sie schon "Gesundheit und Wohlstand" wünschten, begann die andere Hälfte bei Glück und Segen stimmlich einzusteigen.
Dieses schiffschaukelnde Chor-Singen hatte für mich etwas ungeheuer Suggestives, dem ich mich nicht entziehen konnte, auch garnicht wollte. Es erinnerte irgendwie an die Zeit im Mutterleib, an die Wellen auf einem See, deren einzelne Schwappgeräusche in einem durchgängig gleichbleibenden Vibrieren bestehen. Oder wie Kirchglocken an Heiligabend, wo sie aus zahllosen Kirchstühlen wild durcheinanderbimmeln, um leise ins Gemüt zu fallen, wie Schneeflocken: "Glück, Segen, Gesundheit, Wohlstand, Glück, Gesundheit, Segen ..."
Leider war nach etwa drei Minuten alles vorbei und der Unterricht - das Unglück - begann, während es im Empfinden noch eine Zeitlang nachhallte.
Nun hörte ich es nach der Gratulation nach über fünfzig Jahren wieder und es versetzte mich erneut in diesen Zustand von damals, als die Welt noch so offen lag ...
Weiter im Osten des Planeten pflegten spirituelle Kreise das sogenannte "Mantra", als ein sich rhythmisch wiederholendes - evozierendes - Absingen von Kraftworten. Die Möglichkeit und das traditionelle Wissen um bewußte Seelenprägung in befreiendem Sinne ist bei uns Westlern im Wesentlichen untergegangen, auch wenn einzelne "Morgenlandfahrer" solches nach wie vor praktizieren mögen.
Als ich das erste mal Seine Heiligkeit, den 16. KARMAPA traf, das war in den Siebzigern in Kopenhagen, da sangen wir, etwa 500 Personen, zusammen das Mantra der großen Barmherzigkeit "OM MANI PEME HUNG".
Was da aus fünfhundert Kehlen erklang, ist nur schwer zu beschreiben. Da das Luftvolumen der einzelnen Schüler, die aus ganz Europa und Nordamerika angereist waren, um das Oberhaupt der Kagyudpas zu treffen, unterschiedlich zu ihren Nachbarn war, brach jeder, anders, als beim volkssschulischen Kanon, an anderer Stelle ab, um Luft zu holen und hernach wieder frisch einzusteigen. Auch hat jede Stimme eine andere Klangfarbe, gemäß der eigenen Vita. Das gemeinsame Endprodukt bestand nun in einem Klangteppich aus vibrierenden Lichtfäden, so dicht gewebt, daß man ihn hätte mit Händen greifen mögen, sich darauf setzen und mit der kleinen Meerjungfrau vor dem Hafen davonfliegen, ab übern Ozean, bis ...
Die Tibeter nennen die personifizierte Barmherzigkeit den "Bodhisattva Chenresig"*, die Inder erfahren dasselbe Opfern als Avalokithesvara und die Christen erkennen zweifellos ihren Jesus darin, den Menschensohn - Namen wechseln je nach Kulturkreis, das hingebungsvoll sich selbst opfernde Wesen der Barmherzigkeit bleibt gleich. Es bleibt in allem, was es ist: Ein Nicht-Ich.
Vor der Rezitation standen die Belehrungen bezüglich der Bedeutung des Mantras:
Es besteht aus sechs Silben, deren jede für eine Daseinsebene steht und sich im Herzen um die Mitte drehend vorgestellt wird, dieses lichtend sozusagen.
OM ist von weisser Farbe und reinigt vom Geistesgift Stolz.
MA ist grün und befreit von Eifersucht und dem Leiden des ewigen Streitens um Recht.
NI ist gelb, enthebt aus dem Dualismus des Ichs - Geburt, Krankheit, Alter und Tod.
PE - blau, entfernt alle Arten von Nichtverstehen und -lernen.
ME von roter Farbe, löst die dämonische Unzufriedenheit auf, die nie satt wird, was immer sie frißt.
HUNG ist schwarz und befreit die von Hass Zerfressenen, die alles Leben ihrem Wahnsinne nach niedermetzeln.
MANI, das zwei Ebenen Vereinigende ist das unzerstörbare Kleinod - ganz im Sinne des Steines der Weisen früherer Alchymisten - und PEME (skt: PADMA) die geöffnete Lotusblüte, an deren Blätter keine Unreinheit jemals haften kann, so daß es vollständig übersetzbar wird mit "O Kleinod im Ursprung Hung".
Wer dieses Mantra praktiziert, so heißt es nach Shakyamuni Buddha, erwirkt große Verdienste für alle Lebenden, wird nicht mehr in Höllenzwänge geraten und nach dem Tod in DEVA-CHEN wiedergeboren, dem reinen Land Chenresigs, einer Geistesebene, in der ideale Bedingungen herrschen, um das Werk der Befreiung ausüben zu lernen.
Mythen und Kommunikation mit dem Unbewußten sind inzwischen fast vollständig einer logistischen Vernetzung in der Konsumgesellschaft mit höchstem Verdrängungspotential gewichen. Statt Glücks-, Segens-, Gesundheits- und Wohlstandswünsche gibt's Kürzel per SMS. Und wenn überhaupt noch auf Schulen gesungen wird, tönt's funktional, absolut bildfrei und auf Englisch:
"Happy birthday to you, happy birthday to you,
happy birthday liebe Jaqueline, happy birthday to you."
(- Jaqueline leidet an Bulimie und kann die Kerze nur unter größter Kraftanstrengung auspusten ...)
.