Um sieben Uhr morgens nach langem Zögern Haschisch genommen. Seit Monaten nur Hannover, ich platze. Die ganze Welt ist Hannover und mit der unbedingten Gewißheit von keinem einzigen der Milliarden Hannoveranern gestört werden zu können, liege ich auf dem Bett. Es verstimmt mich ein Dreckbläser, der an diesem Sonntag Morgen wie Māra aus heiterem Himmel plötzlich draußen aufgetaucht ist, um mich Buddha in meiner Ruhe zu stören. Ich denke, es ist schon eine Dreiviertelstunde verstrichen. Aber nun sind es doch erst zwanzig Minuten. So liege ich auf dem Bett; las und rauchte. Mir gegenüber immer dieser Blick in das erschröckliche Hannover. Die Straße, die ich so oft sah, ist wie ein Schnitt, den ein Messer gezogen hat.
Ohne mein Bett zu verlassen ging ich on, mir schien die Wirkung auszubleiben oder so schwach werden zu sollen, dass die Vorsicht ganz in mir selbst zu ruhen unterlassen werden mochte. Zuerst auf Gayromeo vorbeigeschaut. Nun? Nur das gewisse Wohlwollen, die Erwartung, Leute einem freundlich entgegenkommen zu sehen. Das Gefühl der Einsamkeit verliert sich recht rasch. Mein Tablet fängt an, mir besondere Freude zu machen. Man wird so zart: fürchtet, ein Sonnenstrahl, der aufs das Display fällt, könnte ihm schaden. Der Ekel schwindet. Man liest ungerührt die Headlines von 50jährigen Sexsuchern. Ich würde mich nicht wundern, wenn der und der mich anchattete. Da sie es aber nicht tun, macht es mir auch nichts. Es ist mir hier jedoch zu verworren.
Nun kommen die Zeit- und Raumansprüche zur Geltung, die der Haschischesser macht. Die sind ja bekanntlich absolut königlich. Das gesamte Internet ist ihm eigentlich zu klein. Und auf dem Hintergrunde dieser immensen Dimensionen des inneren Erlebens, der absoluten Dauer und der unermeßlichen Raumwelt, surft und surft er mit wundervollem, seligem Humor durch die Kontingenzen des Worldwide Net. Ich empfinde diesen Humor unendlich, wenn ich mich schließlich bei kV einlogge und "neuste Texte" anklicke, um mich in die Ewigkeit hineinzulesen. Aber noch bevor ich zum Lesen komme, bleibe ich bei den Avataren meiner Mit-User hängen. Intensives Gefühl, dass ja dies alles hell, besucht, belebt ist und auch bleiben wird. Der Haschisch begann seinen eigentlich kanonischen Zauber mit einer primitiven Schärfe spielen zu lassen, mit der ich ihn vordem wohl noch kaum erlebte. Nämlich er machte mich zum Physiognomiker, zumindest zum Betrachter von Physiognomien, und ich erlebte etwas in meiner Erfahrung ganz Einziges: ich verbiß mich förmlich in die Gesichter von Avataren, die ich da um mich hatte und die zum Teil von remarkabler Roheit oder Häßlichkeit waren. Gesichter, die ich gemeinhin aus einem doppelten Grunde gemieden hätte: weder hätte ich gewünscht, ihre Blicke auf mich zu ziehen, noch hätte ich ihre Brutalität ertragen.
Ich begriff nun auf einmal, wie einem Maler — ist es nicht Rembrandt geschehen und vielen anderen? — die Häßlichkeit als das wahre Reservoir der Schönheit, besser als ihr Schatzbehalter, als das zerrissene Gebirge mit dem ganzen inwendigen Golde des Schönen, erscheinen konnte, das aus Falten, Blicken, Zügen herausblitzte. Besonders erinnere ich mich an ein grenzenlos tierisches und gemeines Frauenantlitz, aus dem mich plötzlich die »Falte des Verzichts« erschütternd traf. Frauengesichter waren es vor allem, die es mir angetan hatten. Es fing nun das lang ausgehaltene Spiel an, dass in jedem Antlitz mir ein Bekannter auftauchte; oft wusste ich seinen Namen, oft wieder nicht; die Täuschung schwand, wie im Traume Täuschungen schwinden, nämlich nicht beschämt und kompromittiert, sondern friedlich und freundlich wie ein Wesen, das seine Schuldigkeit getan hat. Unter diesen Umständen konnte von Einsamkeit keine Rede mehr sein. War ich mir selbst Gesellschaft? Das wohl denn doch nicht so unverstellt. Ich weiß auch nicht, ob es mich dann so hätte beglücken können. Sondern wohl eher dieses: ich wurde mir selber der gewiegteste, zarteste, unverschämteste Kuppler und führte mir User-Profile mit der zweideutigen Sicherheit dessen zu, der die Wünsche seines Auftraggebers aus dem Grunde kennt und studiert hat.
Es wollte mir nicht gelingen, mich von den Profilen und Avatar-Bildern loszureißen und es dauerte eine halbe Ewigkeit bis ich mich endlich den Texten zuwenden konnte. Die Liste der heute wieder eingestellten Texte sieht prächtig aus und rekapituliert schon auf den ersten Blick die Geschichte der gesamten Menschheit. Mir war, als müsste ich sie alle auf einmal lesen und wären sie nur alle auf einmal gelesen gut. Gleichwohl muss man ja irgendwo anfangen und es fällt mir ein Sonett ins Auge, aber noch bevor ich es anklicke, sehe ich den Essay darüber und so fort, bis ich endlich beim obersten, soeben reingestellten Text anlange. Das war aber nicht nur ein Lesehunger, sondern eine ganz ausgesprochene Höflichkeit gegen die Texte, die ich nicht durch eine Ablehnung, also Anklicken eines einzelnen, beleidigen wollte. Es erschien mir eine derart delikate Angelegenheit auch nur einen von ihnen auszuwählen, dass ich schließlich wie in einer Endlosschleife bei den Überschriften hängen blieb. Dabei überkam mich eine unbegreifliche Fröhlichkeit, und ich lächelte der Reihe nach allen User-Namen, auch den ganzen grässlich-verkitschten Frauen-User-Namen, ins Gesicht. Mir schien die Liebe, die diesen Texten mit ihren Überschriften und User-Namen versprochen war, wunderbar schön und rührend. Nur an einer »Schmetterlingsflügelin«, das mich an die alternden Tunten bei Gayromeo erinnerte, ging ich unleutselig vorüber.
Ich muß hier dies allgemein anmerken: Die Einsamkeit solchen Rausches hat ihre Schattenseiten. Nur vom Physischen zu sprechen, so gab es einen Augenblick während ich bei kV on war, wo ein heftiger Druck aufs Zwerchfell sich Erleichterung in einem Summen suchte. Und kein Zweifel, dass wirklich Schönes, Einleuchtendes unerweckt bleibt. Welche Lust in dem bloßen Akt, Text für Text anzuklicken. Und diese Lust ganz tief verwandt mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust. Wir gehen vorwärts; wir entdecken dabei aber nicht nur die Windungen der Gehirne, in die wir uns vorwagen, sondern genießen dieses Entdeckerglück nur auf dem Grunde jener anderen rhythmischen Seligkeit, die da im Abspulen eines Knäuels besteht. Eine solche Gewißheit vom kunstreich gewundenen Knäuel, das wir abspulen — ist das nicht das Glück jeder, zumindest prosaförmigen, Produktivität? Und im Haschisch sind wir genießende Prosawesen höchster Potenz.
Wo ich vorher nur langweiligste Klischees, weichgespülte Romantik, Impotenz gepaart mit Sentimentalität gesehen hatte, entdeckte ich auf einmal lauter Nuancen: diese jedoch waren gleich. Die Texte kamen mir wie ein Kopfsteinpflaster in einer ansonsten durchtechnisierten Großstadt vor, das ein Regen auf einmal schön gemacht hatte. Man redet oft davon: Steine für Brot. Hier diese Steine waren das Brot meiner Phantasie, die plötzlich heißhungrig darauf geworden war, das Gleiche aller Texte zu kosten. Und dennoch dachte ich mit ungeheurem Stolz daran, hier bei kV im Haschischrausche on zu sein; wer hier wohl noch meinen Rausch teile, an diesem Morgen, wirklich denn niemand? Wie ich nicht fähig sei, kommendes Unglück, kommende Einsamkeit zu fürchten, immer bliebe der Haschisch, immer blieben die Texte.
Und wenn ich dieses Zustands mich erinnere, möchte ich glauben, daß der Haschisch die Sprache zu überreden weiß, jene Verschwendung des eignen Daseins, das die Liebe kennt, uns — minder eigennützig — freizugeben.
Ohne etwas zu hoffen oder zu erwarten, fing ich zu kommentieren an und kommentiere immer noch.