Das Attentat (2)

Kurzgeschichte

von  Hartmut

Die Hässlichkeit des Nordbahnhofs ist ihm nicht aufgefallen, verständlich, wenn man sich zum ersten Mal verabredet. Sie kommt tatsächlich an diesem Spätnachmittag im November 1963, steigt aus dem roten Schienenbus, lächelt, sagt etwas Unwichtiges wie etwa: „Wartest du schon lange?“ Sie gefällt ihm, ihr Gesicht ist lebendig, und wenn sie spricht – mehr als er – kann ihr Mund ganz schön spöttisch aussehen.
Wohin geht man? Irgendwohin, und da der Stadtpark nicht weit vom Bahnhof liegt, geht man dorthin, wo es zu dieser Jahreszeit ziemlich einsam ist. Hobby? Sie spielt Geige und sie kann sich vorstellen, später mit einem Künstler auf Tournee zu gehen. Er aber muss mit Eisen arbeiten. Sie liebt Pascal und hasst Mathematik. „Weißt du eigentlich, dass Pascal bewiesen hat, dass es einen Gott geben muss?“ Er weiß es nicht. Gebannt schaut er auf ihre Lippen, als diese das Wort „Gott“ aussprechen. Sie redet und er bemerkt nicht, dass sich die Welt wieder um ein paar Minuten weiter gedreht hat.
Es ist inzwischen dunkel geworden, sie muss nach Hause. Der Fahrplan der Deutschen Bundesbahn diktiert den Zeitplan der Liebe. „Bist du eigentlich gläubig?“, fragt sie. Er findet keine Antwort, oder besser: nicht bei der atemberaubenden Geschwindigkeit, die sie vorlegt. Sie sind wieder am Ausgangspunkt, ihr Zug wartet schon.
Und da passiert es: Er küsst sie, oder besser: er versucht es. Sie dreht aber den Kopf weg. Schweigen, Einsteigen, Tschüss. Er steigt auf sein Fahrrad und rast nach Hause. Im Radio hört man von einem Attentat auf Kennedy. Es ist Freitag, der 22. November 1963. Erst später, kurz bevor sie Schluss macht, erwähnt sie den Kuss. „Ich war damals nicht vorbereitet, zu plötzlich und zu heftig, fast wie ein Attentat“, erklärt sie.
Es war damals der richtige Zeitpunkt, sie küsste jetzt schon so, dass ihre Zungenspitze seinen Kuss erwiderte.

…………………………………..
Es gibt Erinnerungen, von denen man glaubt, dass die Zeit sie löscht. Ein Lächeln z B.!
Gibt es Berührungen, die für immer Spuren hinterlassen und die nur der Tod löscht? Ein Kuss z.B.?

Er will sie nach 47 Jahren noch einmal sehen und tut „alles“, um sie zu finden. Und er findet sie.

Eine ältere Dame steht vor ihm, schaut ihn an, lächelt, sagt seinen Namen. „Ja, du bist es“, erwidert er.
Sie gehen irgendwohin. In der Gegenwart  sind sie sich fremd, nicht in der Vergangenheit. Zwei Stunden  erzählen sie von gestern und heute, dann möchte sie gehen. Er begleitet sie zum Auto und plötzlich geht neben ihm  wieder die 17-Jährige, ihr Gang, das Mädchen von damals. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein nach 1482192000 Sekunden.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(24.02.15)
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 Hartmut meinte dazu am 25.02.15:
Lieber G.,
Pascal (der Angsthase) hat mich damals nicht interessiert, nur ihren Mund, damals mit 20….
Alles GUTE!
H.
Graeculus (69) antwortete darauf am 25.02.15:
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