Darf man heute noch Herbstgedichte schreiben?

Essay zum Thema Stillstand

von  EkkehartMittelberg

Heute ist so ein Tag, an dem man seine Gefühle wie unter Suggestion nach außen kehren möchte. Die Luft ist so still, dass sich kein Blättchen regt, die Sonne so mild, dass sie die Haut liebkost, der Himmel so durchsichtig blau, dass man wie ein Vogel fliegend seine Weite erproben möchte.
Man schreibt es nieder und weiß, dass das alles schon gesagt wurde.
In jedem Herbst werden tausende von Herbstgedichten produziert und das seit Jahrhunderten. Die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung ist gerade bei Herbstgedichten sehr groß. Auch deswegen, weil die besten Dichter gerade bei diesem Motiv ihr Bestes gegeben haben. Hier nur ein paar Beispiele, die mir ohne langes Nachdenken einfallen: Friedrich Hebbel: Herbstbild, Georg Trakl: Verfall, Rainer Maria Rilke: Herbsttag, Stefan George: Komm in den totgesagten Park und schau, Gottfried Benn: Astern.
Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass selbst hier in dem kleinen Lyrik-Ausschnitt von kV noch einige wirklich originelle Gedichte gefunden werden können, zum Beispiel

Wehe!
Kurzgedicht
von  Janna.
Herr Herbstwind kitzelt an der Rinde
der gelbbekrönten Sommerlinde.
Er raunt: Ich habe Lust, zu rasen
und dir dein Kleid vom Leib zu blasen.
 
Frau Linde lacht sich einen Ast
und spricht: Ich glaube fast, du hast
vergessen, dass ich darauf stehe,
wenn du mir einen bläst. Los, wehe!

oder
Die Mahd
Gedicht zum Thema Jahreszeiten
von  Lluviagata.
 
Stille ists, der Sonnentag
strahlt und schwingt die Flügel.
Jählings dröhnt es Schlag um Schlag
hinterm fernen Hügel.
 
Monstren kreuchen im Verbund,
wirbeln Schneid und Flegel
heißes Korn im Wagenschlund
zum gradierten Kegel.
 
Schließlich liegt die Weite brach.
Spreu und Staub mattieren
Baum und Sträucher
und gemach
 
geht ein Reh spazieren.
 
oder ein Gedicht von meiner Wenigkeit

Fröhliche Herbstgedanken
Sonett zum Thema Vergänglichkeit
von  EkkehartMittelberg.

Wenn die ersten Blätter leise fallen,
denken viele an Vergänglichkeit,
Kranichschreie, und es rennt die Zeit,
deren Schritte unaufhörlich hallen.
 
Ich lass dennoch meinen Drachen steigen,
laufe munter durch den bunten Wald,
grau die Haare, doch das Herz nicht alt.
Immer weiter geht des Lebens Reigen.
 
In der Schale liegen frische Früchte,
auf gedecktem Tisch steht junger Wein,
Sterben und Vergehen sind nur Schein,
 
ewger Tod, Verdammnis nur Gerüchte,
glaub nicht Ammenmärchen, Höllenpein!
Asche wird einst eine Rose sein.
 
© Ekkehart Mittelberg, September 2011

Gut möglich, dass Liebhabern der Klassik, keines von meinen drei Beispielen als originell erscheint, dass sie sie für hilflose Versuche halten, auf einen abgefahrenen Zug zu springen.
Das sollte man ohne Verstimmung zur Kenntnis nehmen, weil es nur bestätigt, dass die Frage der Überschrift sinnvoll ist.

Ich habe die Hoffnung, dass auch heute noch Herbstgedichte entstehen, die vielleicht einmal zu den Klassikern gezählt werden.
© Ekkehart Mittelberg, September 2016

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (28.09.16)
Kultur ist nicht das Leben. Es ist eine Reflexion des Lebens. Und da jeder von uns ein Leben hat, darf auch ein jeder, seinem Gemüt entsprechend reflektieren - was auch für kommende Generationen gilt. Dabei produzieren die Menschen wahrscheinlich Vergleichbares, weil unsere Leben sich bei Weitem nicht so sehr von einander unterscheiden, wie wir es in unserem unstillbaren Drang nach Einzigartigkeit - dabei schneidet uns Einzigartigkeit von den Menschen um uns herum ab, macht einsam und das wollen die wenigsten - gerne hätten. Vergleichbare Situationen erzeugen vergleichbare Ergebnisse, dass ist eine Annahme, die sich durch Jahrtausende bestätigt hat.

Das betrifft dann auch die Herbstgedichte. Manche mögen gut sein, andere mögen weniger gut sein. Dem einen gefallen sie, dem anderen nicht. Wem sie nicht gefallen und daraus eine grundsätzliche Kritik spinnt, der sollte jedoch bedenken: Das haben vor ihm schon andere gemacht. Auch Kritik (und Provokation) macht nicht einzigartig.

Fazit: Schreibt Herbstgedichte, so viel ihr wollt.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.09.16:
Merci, dieser kluge Kommentar lässt mich nur nachdenklich schweigen.
Nimbus (41) antwortete darauf am 28.09.16:
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Janna (66)
(28.09.16)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 28.09.16:
Liebe Janna,
du hast meine Frage richtig verstanden. Wer wollte sich erdreisten, Herbstgedichte zu verbieten, weil sie nicht das Niveau eines Rilke oder Benn erreichen. Aber etwas Einfallsreichtum darf man schon erwarten, damit einen nicht in jedem Jahr eine Lawine der Langeweile überrollt, weil jeder meint, er sei es sich schuldig, den Herbst zu vergewohltätigen. Du hast die wichtigste Antwort gegeben, wie diese Langeweile vermieden werden kann. Durch Perspektivenwechsel. Es gibt natürlivh noch andere Möglichkeiten. Lassen wir uns positiv überraschen.
Liebe Grüße
Ekki
dettel (80)
(28.09.16)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 28.09.16:
Ja, Detlef, der Herbst des Lebens ist eine oft gewählte Variante unter den Herbstgedichten. Aber sie ist besonders schwierig, denn hier lauert der Kitsch der Wehleidigkeit, des sentimentalen Pathos. Andererseits gibt es aber die Chance der Selbstironie. Dir traue ich zu, über dieses Thema eine komische Humoreske zu schreiben.
Mockingbird (51)
(28.09.16)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 28.09.16:
Es stimmt schon, dass neben den Jahreszeiten (Herbst und Frühling insbesondere) Liebe, Sehnsucht und Tod eine Gedichtinflation provozieren. Bei den letzten Motiven fällt das nur nicht so auf, weil sich die Produktion über das ganze Jahr verteilt. Bei Frühling und Herbst indes setzt saisonbedingt eine Gedichtflut ein, die kritische Leser mit den von dir beispielhaft erwähnten Stereotypen überspült, sodass der Mangel an Originalität besonders spürbar wird.
Overwolf (37)
(28.09.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.09.16:
Du vertrittst diese Meinung gewiss nicht allein, und deswegen finde ich es gut, dass du sie so offen artikuliert hast.
Viele Grüße zurück.
Lance (52)
(28.09.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.09.16:
Merci, Lance, so sehe ich es auch: Im Umfeld großer Konkurrenz ist es nicht leicht, gute Herbstgedichte zu schreiben, aber es ist immer noch möglich.
LG
Ekki
David_Sternmann (34)
(28.09.16)
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dettel (80) meinte dazu am 28.09.16:
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David_Sternmann (34) meinte dazu am 28.09.16:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.09.16:
Der Herbst ist ja nicht nur ein benebelter griesgrämiger Geselle. Er kann auch herzhaft lachen. Ich lache gerne mit dir über diesen originellen Einfall.
Grinsegrüße an Kaspar
heilerfeld (33)
(28.09.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.09.16:
Was du gern liest, kann nicht ganz schlecht sein.
Stelzie (55)
(28.09.16)
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Janna (66) meinte dazu am 28.09.16:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.09.16:
Liebe Kerstin,
vergessen wir nicht die lustige Seite des Herbstes und dass ihm manch trauriger Poet zu viel Düsternis andichtet.
In deine sonnigen Herbstgrüße stimme ich gerne ein.

Launischer Herbst
Sonett zum Thema Jahreszeiten
von EkkehartMittelberg.

Der Herbst - fürwahr ein launischer Geselle,
er hält die Luft an, dass kein Hauch sich regt,
dann bläst er backenvoll und schafft Gefälle,
dass alles purzelt und verquer sich legt.

Er liebt das Chaos, lässt die Hüte fliegen
und hebt gar schamlos Röcke bis ans Kinn,
dass Spanner kostenfrei ’ne Peepshow kriegen,
verspottet grinsend braven Bürgersinn.

Soeben heiter, lässt er Stürme toben,
Poeten werden dann ganz wirr im Kopf,
der Sinn verweht, was sollen sie jetzt loben?

So wenden sie sich konsequent nach innen,
sie wühlen grübelnd in verstaubtem Zopf
und lassen sinnenschwer die Seele spinnen.

© Ekkehart Mittelberg, September 2014
Stelzie (55) meinte dazu am 29.09.16:
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 AZU20 (28.09.16)
Man sollte also noch, wenn man Deine Beispiele liest. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.09.16:
Armin, du verstehst mich richtig.
LG
Ekki
Dieter Wal (58)
(28.09.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.09.16:
Na also, es geht doch auch fröhlich. Ob Herr Herbst vor fallenden Hüllen rot wird, weiß ich nicht so genau, aber dass er es farbenfroh treibt, lässt sich nicht leugnen. )

 TassoTuwas (29.09.16)
Hallo Ekki,
es ist und bleibt bei der simplen Erkenntnis, "Alles ist schon einmal gesagt oder geschrieben".
Sollen wir es darum bleiben lassen?
Den Funken "Besonderheit" zu finden ist die Herausforderung, die alles erlaubt!
Ich mach mich auf die Suche
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.09.16:
Lieber Tasso,
den Funken "Besonderheit" zu finden, halte ich für eine Motto, das herausfordert, aber nicht überfordert. Merci.
Herzliche Grüße
Ekki

 Fuchsiberlin (29.09.16)
Ja der "Herbst" als Thema scheint einladend zu wirken, was das Gedichte schreiben anbelangt. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass im Herbst für den einen etwas Goldenes liegt, während für einen anderen Schwere über diese Jahreszeit schwebt. Die Zeit zwischen dem endenden Sommer und dem nahenden Winter lässt Bilder, Gedanken und Emotionen entstehen. Jeder Mensch darf natürlich auch Herbstgedichte schreiben. Und wenn er in einer Woche 100 schreibt. Jedes davon ist einzigartig, denn ein Autor lässt seine Gedanken und Emotionen einfließen. Seine Individualität. Auch wenn vielleicht manch eine Metapher wie z. B. "Goldener Herbst" usw. abgegriffen erscheint, dennoch unterscheidet sich jedes Gedicht voneinander. Dies oftmals im nicht sofort entdeckten Rahmen. Sondern in Feinheiten eines Gesamtbildes, und manchmal auch zwischen den Zeilen.

Liebe Grüße
Fuchsi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.09.16:
Fuchsi, du hast gute Gründe dafür geliefert, weshalb der Herbst ein besonders geschätztes literarisches Motiv ist. Hoffen wir auf eine einfallsreiche Weiterentwicklung.
Liebe Grüße
Ekki

 monalisa (05.10.16)
Ich mag diesen zwielichtigen Gesellen, der einerseits mit seinem besonderen goldenen Licht, als die Farben noch einmal unvergleichlich aufleuchten lässt, den Herbst, der noch einmal so richtig Gas gibt, in Schönheit und Fülle schwelgt, sich andererseits melancholisch hinter Nebelschleiern verbirgt und zu innerer Einkehr mahnt.
Und auch ich kanns nicht lassen, seine vielen Facetten immer wieder schriftlich festzuhalten, wenn er mir die abenteuerlichsten Idee in den Kopf ’spukt’ und Gefühle in allen erdenklichen Farbschattierungen ins Herz legt. Ich seh ihn mal als quietschfidelen Landstreicher, der ohne viel zu grübeln in den Tag hineinlebt, als ’bunten Hund’, der uns schalkhaft narrt, als tanzenden Derwisch, als Mahner und Vorboten des Winters, als Buchhalter, der auffordert (Zwischen-)Bilanz zu ziehen ...

Also, ich bekenne mich dazu: ich mag Herbstgedichte, mag sie gern immer wieder lesen und kanns nicht lassen, ihrer Fülle auch noch das eine oder andere hinzuzufügen. Besonders mag ich jene, die auch sein Augenzwinkern mithineinnehmen, ohne ihm seinen Ernst abzusprechen.

Deine Besipiele finde ich sehr gelungen Ekki!
Liebe Grüße
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.10.16:
Liebe Mona,
besser kann man die vielfältigen Gedanken, Empfindungen und Assoziationen, die der Proteus Herbst in Dichtern auslöst, wohl nicht zusammenfassen als du in deinem Kommentar.
Lassen wir ihn also übermütig zwinkern oder melancholisch sein, ernsthaft philosophieren oder Pirouetten schlagen, goldig lächeln oder eine Träne wegwischen und lassen wir ihn ein Auge zudrücken, wenn es uns nur unzulänglich gelingt, den Meister der Metamorphosen einzufangen.
Gracie especiale
Ekki

 HerrSonnenschein (11.10.16)
Jau, also ich mach ja ab und an auch mal Lyrik mit dem "Prekariat".
Da kommt dat hier ziemlich gut:

Scheiß Herbstgedicht

Wer scheißt noch echt krass mehr als wie du ?
Der Herbst!
Er scheißt mich total mit Blättern zu.

Ich bin unbedingt dafür, noch Herbstgedichte zu schreiben!

LG Jörg

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.10.16:
Merci, Jörg, ich bin sicher, dass du dich nicht bescheißen lässt.
LG
Ekki

 Regina (24.05.19)
Darf man in einer Zeit gigantischer Menschheitsprobleme überhaupt noch über sinnliche Freude wie z.B. Jahreszeitenstimmungen schreiben, ohne sich ein schlechtes Gewissen bzw. den Vorwurf zuzuziehen, in einer Welt der Illusionen steckengeblieben zu sein und das Leiden vieler zu ignorieren? So ganz unbelastet kann ich mich unter dem Eindruck der täglichen Nachrichten in dieser Zeit einer Naturträumerei nicht hingeben. Was herauskommt, sind dann evtl. Mischeindrücke. LG Gina

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.05.19:
Merci, in diesem Gedanken kann ich dir gut folgen, Gina.
LG
Ekki
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