5
 Inhalt 
7 
 5
7 

6

Novelle zum Thema Weihnachten

von  Skala

„Brat mir doch einer ‘nen Storch“, murmelte Kowalski, während er durch den Regen stapfte. In den zwei oder drei Stunden, die er unterwegs gewesen war, höchstens, hatte irgendjemand den Weihnachtsbaumstand auf dem Gehweg abgebaut, aber dafür – Kowalski stutzte, als er beinahe an der Tür seines Bürogebäudes vorbeilief – einen großen, aufblasbaren Weihnachtsmann aufgestellt. „Wer hat den denn wieder ausgegraben?“, fragte Kowalski laut. Er stemmte sich gegen die schwere Glastür, trat in die um diese Uhrzeit bereits leere Lobby und fragte sich, wer wohl wieder Überstunden schob. Einer spontanen Eingebung folgend nahm er nicht den Aufzug, sondern die Treppe – es konnte schließlich nie schaden, der Figur zuliebe ein paar Schritte mehr zu tun. Kowalski schnaubte zynisch. Die jahrzehntelange Arbeit bei der Versicherungsgesellschaft trieb bei ihm allmählich die seltsamsten Blüten.

Während er die Treppen hinaufschnaufte, hörte er, wie ein paar Stockwerke über ihm jemand ins Treppenhaus trat und schwungvoll die Treppe hinabpolterte. Als Kowalski den Polterer von oben auf dem Absatz zwischen dem dritten und vierten Stock traf, unterdrückte er nur mit knapper Miene ein Stöhnen. „Stappert“, grüßte er stattdessen förmlich und stellte neidvoll fest, dass sein unausstehlicher Kollege in der Form seines Lebens war.
„Kowalski“, erwiderte sein Kollege und ließ seinen Blick abschätzend über Kowalskis feuchten Mantel und den tropfenden Hut wandern. „Sie sehen heute aber mies aus. In den letzten Tagen ein bisschen zu gut bei den Weihnachtsplätzchen zugelangt? Und sollten Sie nicht eigentlich am Schreibtisch sitzen? Was habe ich Ihnen heute Mittag gesagt?“

Kowalskis Kinnlade fiel herunter. „Wa-?“, stammelte er und schaute Stappert hinterher, der ungerührt und ohne ein weiteres Wort zu verlieren seinen Weg die Treppe hinunter fortsetzte. „Wa-?“, machte Kowalski noch einmal, als unten schon die Tür ins Schloss fiel. Ratlos stieg er die letzten anderthalb Stockwerke hinauf und trat in den düsteren Flur seiner Abteilung.
Kowalski blieb stehen. Düster? Zwei Jahre, nachdem er zum Abteilungsleiter befördert worden war, hatte die Versicherung ein paar Gelder locker gemacht und endlich das baufällige Bürogebäude renovieren lassen – einschließlich neuer Toiletten, neuer Fußböden und eines freundlichen, weißen Anstrichs. Aber hier stand er wieder auf dem alten faserigen Teppich, der genau wie die Wände in einem trüben Grünbraun das Auge des Betrachters beleidigte. Kowalski rieb sich die Augen. „Was geht hier vor sich“, murmelte er und zuckte zusammen, als er von irgendwoher das Klappern einer Computertastatur hörte.

Leise schlich Kowalski den Flur hinunter, am Schreibtisch der Empfangsdame vorbei, und sein Blick fiel auf einen Abreißkalender an der Wand.
23. Dezember 1997.
Kowalski starrte die Zahlen und Buchstaben an.
23. Dezember 1997.
Kowalski kniff die Augenlider zusammen und schaute wieder hin, aber es hatte sich nichts geändert. Immer noch sagte ihm der Kalender, dass es der Vorweihnachtsabend vor neunzehn Jahren war.

„Scheiße“, murmelte Kowalski und hielt sich an der Schreibtischkante fest. Er erinnerte sich. An Weihnachten vor neunzehn Jahren hatte er gerade neu bei der Versicherung angefangen, und Stappert, der ihn eigentlich nur hatte einarbeiten sollen, hatte die Gelegenheit genutzt, ihm gleich einen riesigen Berg Aktenarbeit aufzuhalsen, den Kowalski unmöglich bis zu den Feiertagen hatte erledigen können – weshalb er Heiligabend im Büro verbracht und sich einen ganzen Berg Arbeit für die Feiertage mit nach Hause genommen hatte.
Scheu pirschte sich Kowalski an eine der Bürotüren im hinteren Teil des Flures heran, hinter der noch Licht schien – Raum 23B. Er wusste jetzt, wer dort um diese Zeit noch arbeitete, und doch traf es ihn mit voller Wucht, als er vorsichtig durch die milchige Glasscheibe in der Bürotür spähte, und die Silhouette seines eigenen, fast zwanzig Jahre jüngeren Selbst über den Schreibtisch gebeugt sitzen sah. Der Seufzer, den der junge Kowalski im Büro von sich gab, war so laut, dass er bis an die Ohren des älteren Kowalskis im Flur drang. Dieser zögerte, haderte mit sich, hob die Hand, um an die Tür zu klopfen, entschied sich aber dann doch, sich leise in den Empfangsbereich zurückzuziehen. Was auch immer hier mit ihm geschah – wer wusste schon, was passieren würde, wenn er jetzt in dieses Büro, in seine eigene Vergangenheit, platzte?

Kowalski kaute auf seiner Unterlippe herum und blickte sich in der menschenleeren Abteilung um. Dann fasste er einen Entschluss. Er trat zum Abreißkalender und trennte vorsichtig das Blatt des 23. Dezembers heraus. Vom Schreibtisch der Sekretärin nahm er einen Kugelschreiber und schrieb nach kurzem Überlegen eine dreiste Lüge auf. Das abgerissene Kalenderblatt platzierte er direkt vor der Bürotür des jungen Kowalskis und machte sich dann leise auf den Weg zum Bahnhof. Anscheinend gab es nur eine Person, die ihm seine unzähligen Fragen würde beantworten können.
In der Abteilung blieb nichts, bis auf gelegentliche Seufzer aus Raum 23B und den einsamen, kleinen Zettel auf dem schäbigen Teppich.

Frohe Weihnachten. Alles wird gut.

 5
 Inhalt 
7 
 5
7 
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (06.12.16)
Es wird immer spannender. Jedes neue Kapitel deiner Weihnachtsnovelle gibt dem Leser ein neues Rätsel auf. Ich hoffe auf das Weihnachtsgeschenk ihrer Lösung.
LG
Ekki

 Lluviagata (06.12.16)
Ich bin auch sooo gespannt!

Danke für diese wunderbare Geschichte! ♥

Llu
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram