Deutschstunde für roter Mund

Kurzgeschichte

von  Hartmut

Die Hässlichkeit des Nordbahnhofs ist ihm nicht aufgefallen, verständlich, wenn man sich zum ersten Mal verabredet. Sie kommt tatsächlich an diesem Spätnachmittag im Juni, steigt aus dem Zug aus, lächelt, sagt etwas Unwichtiges: „Wartest du schon lange?“
Die Verabredung am Samstag endete mit ihrer Bemerkung: „Du bist ja blau.“ Er hatte auf dem Sommerfest seines Leichtathletikvereins zu viel getrunken. Es gab einen Anlass: Am Nachmittag wurde er Vereinsmeister im 100-Meter-Lauf, immerhin in 11,4 Sekunden. Die Folge war Freibier und der Mut, sich mit dem schwarzhaarigen Mädchen zu verabreden.
Jetzt steht sie neben ihm und ihre Augen sagen: was nun? Da von ihm nichts kommt, gehen sie einfach Richtung Stadtpark und er bemerkt, dass sie einen Fuß nachzieht. Sie setzen sich zu den anderen auf eine Wiese und sie erzählt, wie alles gekommen ist, die Einladung ihrer Freundin zum Sommerfest der DJK. „Nur Läufer, Springer und Werfer kommen“, sagte sie.
Einmal entsteht eine Pause. „Ich heiße gar nicht Lilly, sondern Lluviagata – ein Zungenbrecher.“ – „Luvicata“ – „Falsch, du musst noch üben.“
Am nächsten Samstag treffen sie sich im Waldstadion nach seinem Training. Sie gehen Richtung Wald. Er führt, und einmal müssen sie über einen Bach springen. Er reicht ihr die Hand, die er dann nicht mehr loslässt.
Nach dem ersten Kuss erwähnt sie, dass er soeben eine halbe muslimische Bosniake küssen durfte, worauf er antwortet, dass sie eben den schnellsten Läufer eines katholischen Sportvereins geküsst hat.
Dann erzählt sie ihre Geschichte: „Ich komme aus Bosanski Petrovac, ein Städtchen im heutigen Bosnien, nahe der kroatischen Grenze. Meine Mutter war Muslimin, mein Vater Christ. Sie waren Korbflechter, so wie fast alle in der Stadt. Korbsessel aus Petrovac, hast du schon einmal davon gehört? Etwas ganz besonders! Man lebte und liebte zusammen, dann kam der Bürgerkrieg, Gebietsansprüche, plötzlich saßen wir zwischen den Stühlen, Hass, Gewalt. Deshalb sind wir ausgewandert. Seitdem haben sich meine Eltern von ihrer Religion verabschiedet. Mitten im Bürgerkrieg wurden seltsamerweise viele Kinder in unserer Kleinstadt krank, so auch ich. Ein Bakterium breitete sich aus, ein Nachbarjunge starb, mein Bein entzündete sich, aber es gab einfach kein Antibiotikum mehr im Ort und die Reise in die Nachbarstadt war lebensgefährlich. Eine Sprinterin werde ich wohl nie.“
An einem Sonntag im Oktober landet er bei der Kreismeisterschaft nur auf dem vorletzten Platz. Dafür aber später in ihrem Bett. Nach der Liebe macht sie sich über die deutsche Sprache lustig:
„Dein schöner Glied
Deines schönen Gliedes
Deinem schönen Gliede
Deinen schönen Glied…
Was soll das? Wer hat das erfunden? Seid ihr wahnsinnig? Warum ändert man das nicht?“  „Es heißt das Glied, ein Neutrum.“  „Wow, noch verrückter! Jedna noc sa tobom je ko dan, bila sam vesela, a ti ne sam.“  „Und was heißt das?“  „Möchtest du es wissen? Es kommt das Wort Geschlechtsverkehr vor, ein schreckliches Wort. Komm, ist aber ein schönes deutsches Wort, komm näher!“ Er dreht sich zu ihr, und sie legt ihr schwaches Bein auf sein starkes.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(14.03.17)
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ues (34) meinte dazu am 14.03.17:
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Graeculus (69) antwortete darauf am 15.03.17:
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 Hartmut schrieb daraufhin am 15.03.17:
Lieber G. Der Text ist nicht neu! L. hatte damals nichts dagegen!
Ich habe ihn für R. noch einmal eingegeben. Ach ja, Lluviagata ist wunderschön als Mädchen und Name!
Hartmut
Graeculus (69) äußerte darauf am 15.03.17:
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