Gegen Ende der Zeit (1)

Kurzgeschichte zum Thema Sterben

von  Hartmut

Natürlich kann sich ein Lehrer in eine Schülerin verlieben besonders dann, wenn man gemeinsam auf einer Wellenlänge schwingt. Eine landläufige Liebe ist das nicht, eher eine kosmische.
Zuerst ist sie ihm nicht aufgefallen im Strom der Schüler, die lärmend einfallen.  Es ist sein Klassenzimmer, von ihm gestaltet: Galaxien, Sternbilder überall an den Wänden.
Der Unterricht – Vertretung für einen erkrankten Kollegen -  beginnt mit einem Konflikt. Einige Schüler tragen Mützen, auch sie trägt eine, außen rot und in der Mitte blau. Die Schulordnung spricht da eine klare Sprache: Nein, in der Klasse verboten. Maulend, von Menschenrechten schwadronierend, werden sie abgenommen. Sie tut es nicht, auch nicht nach einer zusätzlichen Ermahnung. Stille.
Nach dem Pausenklingeln ist er mit ihr allein. Sie geht nicht. Was will sie? „Wie viele Sterne “, und jetzt sucht sie zum ersten Mal Blickkontakt, „gibt es im Weltall?“ Die Frage hat er nicht erwartet. Er ist verwirrt und nennt die Zahl 10 hoch 60. „Pah“, sagt sie abfällig, „es gibt unendlich viele.“

In der nächsten Woche steht sie wieder vor ihm. „Eta Carinae fehlt noch“, sagt sie, und übergibt ihm ein Bild, um es aufzuhängen. „ SIE ist wunderschön.“  SIE?
Kurz vor den Weihnachtsferien - über 4 Wochen hat sie gefehlt - ist sie wieder da. Keine Mütze, halblanges Haar. Perücke?  Ausgefranste Jeans, stonewashed, T-Shirt, darüber ein Fleecepulli mit einem blöden Spruch. Die Augen sind es, die ihn fesseln, ihn nicht entlassen. Blue, blue windows behind the stars. „Wann stirbt DIE - LEUCHT- KRÄFTIGE - BLAUE - VERÄNDERLICHE?“, fragt sie unvermittelt. Diese Frage hat er nicht erwartet „Wir vermuten, dass er noch genug Energie hat entgegnet er. „Aber SIE verblasst zunehmend in letzter Zeit. SIE wird sterben.“
„In den 200 Millionen Jahren hat er 2 mal 10 hoch 42 Joule Energie freigesetzt, er ist immer noch vier- bis fünf Millionen mal heller als unsere Sonne, er wird  bestimmt nicht in den nächsten Jahren sterben.“ Sie geht, dreht sich noch einmal um, sucht seine Augen: „Ich hoffe, Sie haben recht.“

Was wissen wir wirklich? Die Zahl der Sterne: 1000000000000000000000000000000000000000000000000000000000ooooooooooo, ein Fantasiegespinst! Hundert Milliarden Sterne in unserer eigenen Galaxis. Eine flach gedrückte Spirale mit einem Durchmesser von hunderttausenden Lichtjahren, darin der sterbenden Doppelriese Eta Carinae. Und dahinter abermals hundert Milliarden Galaxien, alle etwa genauso groß wie unsere eigene. Solche Zahlen betäuben den Schreiber, andere werden vielleicht darüber ununterbrochen schreien.

Vor knapp fünfzig Jahren- nur ein Augenaufschlag unserer Geschichte - fand man, dass  die Galaxien aufgrund einer Rotverschiebung sich von uns weg bewegen.
Aber jetzt? In fast 5 Milliarden Lichtjahren Entfernung, also in unsrer „Nähe“ beobachten wir, dass aus dem Rot allmählich ein Blau wird, das die Galaxien mit Lichtgeschwindigkeit auf und zu rasen: Das Universum kollabiert! Der Kollaps erscheint unvermeidlich! Die Perspektive scheint klar: Das Universum wird zu einem Ofen, der Nachthimmel beginnt in einem dunklen Rot zu glühen. Alle Planeten werden ihrer Atmosphäre beraubt, und alle Lebensformen werden gnadenlos zu Asche.

Aber was ist Zeit? Kann auch Zeit enden? Raum kann zusammen mit Materie vernichtet werden, aber kann Zeit sich aus der Grammatik der Consecutio Temporum davon machen? Pythagoras hat geglaubt, die Zeit sei die Seele, der Urstoff des Universums. Descartes hat behauptet, dass die Zeit eine ununterbrochene Reihe vergangener Augenblicke sei, die Gott fortlaufend, Sekunde für Sekunde, in immer neuen Schöpfungsakte ersetze.
Was sagen uns die Hohenpriester? Warum vertun wir unser kurzes Leben mit Spielchen?


Zum Schulbeginn im neuen Jahr bleibt ihr Platz leer - für immer. Ende Januar wird man in der Zeitung lesen können, dass ein australischer Wissenschaftler behauptet, es gäbe unendlich viele.
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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(08.04.17)
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Sweet_Intuition (34)
(14.04.17)
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