Prostata-OP

Erzählung zum Thema Katastrophen

von  eiskimo

Ich bin nicht weggelaufen. Ich weiß auch jetzt, was ein Hodenbänkchen ist und dass Carmen das Wochenende frei hat. Carmen ist die Nachtschwester hier im Sankt-Josefs-Krankenhaus. Sie hatte gemerkt, dass der linke Schnitt in meinem Hodensack zur (vorübergehenden) Abkappung der Samenleiter wieder blutete, und von ihr bekam ich gezeigt, wie man das anbringt, das  besagte Hodenbänkchen, aber auch die nötige Kühlkompresse.
Und nachdem sie mich verarztet hatte, gestern Nacht, am Tag Eins nach meiner OP, haben wir ein bisschen geplaudert, und ich erfuhr, dass sie jetzt drei Tage frei haben würde.
Ich hatte noch eine Schlaftablette  bekommen, und als Carmen – welch schöner Vorname  – am nächsten Vormittag ihr verdientes  langes Wochenende antrat, als ich noch von Schwester Stefanie umgezogen und gewaschen wurde, da war es erneut zu spät zum Weglaufen. Es war der 12. März und der Tsunami hatte die Japaner schon weggerissen aus ihrem geschäftigen Alltag , förmlich  weg gespült zu Tausenden. Ich konnte mir die wackeligen Bilder in allen TV-Kanälen anschauen.  Schwester Stefanie hatte mir die Handhabung des Miet-Fernsehers auf Zimmer 128 gerade erst erklärt. Es gab auf allen Kanälen immer dieselben Bilder. Dass bei einer Redaktionskonferenz von TV-Leuten plötzlich die Wände und Regale umstürzten, und dann die Sequenz aus dem Helikopter, die zeigte, wie eine braun schäumende Masse das geordnete Patchwork einer satten Landschaft förmlich auffraß, die brennenden Tankstellen ragten da heraus wie Kerzen auf einem wegschmelzenden Kuchen.
Meinem Zimmernachbarn hat man den linken Hoden entfernt. Als man ihn aus dem OP-Saal zurück ins Zimmer rollte, machte ich den Fernseher lieber aus.  Seine Freundin kam, setzte sich zu ihm ans  Bett und hielt stumm seine Hand. Er bekam ein Röhrchen mit Sauerstoff in die Nase. Halbwach starrte er zur Decke.  Ich rückte mein Hodenbänkchen zurecht, kontrollierte die Kompresse. Das Sauerstoffgerät blubberte monoton.  Ich schaute auf den toten Bildschirm.  „Es wird schon werden“, sagte ich zu der jungen Frau.  Sie schaute mich mit großen Augen an, wie ein Engel, und nickte.


Anmerkung von eiskimo:

Ich schreibe , um nicht zu vergessen...

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (19.01.18)
Ich schreibe , um nicht zu vergessen...
Das ist hier irrelevant.

 eiskimo meinte dazu am 19.01.18:
Stimmt! Relevant ist, dass ich es tatsächlich erlebt habe und, um es nicht zu vergessen, dann aufschrieb

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 19.01.18:
Achnöö, schon wieder die Authentiziätskeule.
Also wenn Du alle handwerkliche, konstruktive Kritik weghaben willst, kannst Du natürlich auf der "Aber-genau-so-war's-gewesen"-Welle reiten. Ich jedenfalls klinke mich hiermit aus.

 idioma schrieb daraufhin am 19.01.18:
Hauptsache ein Häkchen ( in diesem Fall die Anmerkung ) ist gefunden, um notorische Nörgeleien dran aufzuhängen, denn sonst müsste man ja sagen, dass das saugut geschrieben ist !
Anstatt Larmoyanz sogar noch Selbstironie......
und dieses zweifache persönliche Leiden in dem Krankenzimmer
simultan zur katastrophalen Heimsuchung eines ganzen Landes
ganz ohne dozierende conclusio nebeneinandergestellt.......
idi

 eiskimo äußerte darauf am 19.01.18:
Danke, Idioma, für diese gut begründete Parteinahme. Den Vorredner und seine Kritik habe ich nicht verstanden.
lG
eiskimo
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