Ottilienblindenheim. Bernhardiner und Bogenstrich.

Erzählung zum Thema Betrachtung

von  franky

Was nach dem lauten Knall aus meiner Spielzeugpistole im großen Speisesaal verändert wurde, war für uns Knaben gar nicht so schlecht. Wir wurden in ein Extrazimmer verlegt, wo bis hin die Männer ihren Speiseraum hatten. Schwester Kolianna war zukünftig für die Verteilung unserer Speisen zuständig. Mein Platz war ganz hinten am Ende des schmalen Raumes. Gar nicht so übel! Wir größeren, Edi, Ferdinand und Adolf hatten Plätze links neben mir am Ende der schmalen, langen Tischreihe. Hinter meinem Rücken war das einzige Fenster des Raumes. Manchmal musste ich mich vehement dagegen wehren, Wenn mir permanent kalte Zugluft auf den Rücken blies. 

Jemand von der Hausverwaltung hatte den unnötigen Einfall, einen Bernhardinerwelpen anzuschaffen und frei herumlaufen zu lassen.
Ich glaube es war der Heizungswärter, dem war die Arbeit nur immer Kohle in den Ofen für die neue Zentralheizung schaufeln zu langweilig, er brauchte ein zusätzliches Spielzeug. Nach einem Jahr ist der Welpe zu einem großen Tier herangewachsen. Weil sich niemand mehr für das Tier interessierte,  wurde der Arme Hund schlussendlich an die Kette gelegt. Seine Tagesbeschäftigung bestand darin, von einem Ende des Kettenlaufes zum anderen rennen und dazu ununterbrochen laut zu bellen. Dieses artfremde Gefängnis hatte dem Bernhardiner schließlich zum Wahnsinn gebracht, niemand war für den Hund zuständig. So dass sich Herr Subdirektor genötigt sah, dem Tier mit einem Schuss aus seinem Kleinkalibergewehr ein Ende zu setzen. Das Drama bestand jedoch, Es waren mehrere Schüsse nötig, bis das große, starke Tier endlich tot war.
Der Tierschutzverein hatte diesen Fall zu Ohren bekommen und zeigte unseren Subdirektor bei der Polizei an. Er wurde wegen Tierquälerei zu einer Geldstrafe verurteilt. So was Verrücktes! Unser Subdirektor ein Straftäter. Man hätte diesen Fall am liebsten vertuscht, doch die Zeitung hatte davon Wind bekommen und daraus Kapital geschlagen. 
„Subdirektor vom Ottilienblindenheim als Tierquäler verurteilt.“

Mein Musiklehrer Walter Kögler studierte mit mir die wunderschöne Rheinberger Messe ein. Am kommenden Sonntag in der Kirche war der Moment, mein Können mit dem Chor unter Beweiß zu stellen. Ich fieberte dem Zeitpunkt entgegen.
Ich war schon lange vor Beginn zur Stelle und schaltete mit zittrigen Fingern den Motor für den Blasebalg mit einem Kippschalter von unten nach oben ein. Die Empore war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die zahlreichen Sänger und Sängerinnen nahmen für das bevorstehende Hochamt rechts und links von der Orgel Aufstellung.
Emmerich stand rechts von mir und kniete sich bei Aufforderung des Klingelns gehorsam auf den Boden. Er merkte jedoch nicht, dass er mit dem hinteren Saum seines Sakkos den Kippschalter wieder nach unten kippte. Das blieb anfangs noch unbemerkt, der Blasebalg stand noch unter genügend Druck.
Das Kyrie der Rheinbergermesse wurde unter meiner Leitung angestimmt. Es lief alles wie geschmiert! Als nach einigen Takten der Blasebalg sich entleert hatte, war die Orgel zu meinem Entsetzen verstummt und die Sänger hingen hilflos in der Luft. Bei ihnen war auch die Luft heraußen. Es dauerte eine gute Weile bis der Missetäter gefunden und der Schalter wieder eingestellt werden konnte. Walter Kögler, der von Beginn an neben mir saß, übernahm nun das Orgelspiel und ich stand mit hängenden Ohren neben dem Instrument. Meine Enttäuschung war riesengroß! Da habe ich mich akribisch auf meinen Einsatz vorbereitet und nun dieses jähe Ende! So eine Chance wird nicht so rasch wieder kommen. 
Meine große Liebe Luzia befand sich ja auch unter den Chorsängerinnen  und musste diese Blamage miterleben.

Walter Kögler hatte sich an kommenden Dienstag für eine Morgenmesse um halb sieben angeboten. Er flüsterte mir beschwörend zu:
„Du musst auch unter irgendeinem Vorwand zu mir auf die Empore kommen und auf mein Zeichen das Orgelspiel übernehmen. Ich habe einen dringenden Termin und muss weg. “
Ich wusste sofort um was es sich bei diesem Termin handelte, (Frauen). Walter Kögler hatte einen deutlichen Hang für das schöne Geschlecht, was von mir natürlich voll unterstützt wurde. Ich saß einsatzbereit rechts neben Kögler, der flüstert nach dem Agnus Deie: „D 7“ Ich schob unauffällig meine rechte Hand unter die von Kögler und spielte gehorsam die Messe zu Ende. Ich mischte ein Paar schräge Töne in mein Präludium, Kein Schwein merkte, dass Walter Kögler auf Freiers Füßen unterwegs war.     

Edi Eibl, Ferdinand Winkler, Hannes und ich wurden von dem Extrazimmer wieder in den großen Schlafsaal verlegt. Es muss neunundvierzig, fünfzig gewesen sein. Nichts mehr mit abendlichen spannenden Diskursen und Transistorradiohören. Dafür wurde aus diesem Extrazimmer ein Aufenthaltsraum für uns erwachsene Kinder eingerichtet.
Ein Zimmer weiter links wohnte eine betagte Dame, die konnte bravourös Klavierspielen. Mein Freund Walter Koch hatte sich bei ihr als Klavierschüler eingetragen.
Der Unterschied zu Walter Kögler bestand darin, dass Schalotte Müller die weichere, feine Klinge führte. Walter Kögler dagegen vertrat die freie emotionelle Linie, die mir besser zusagte.

Ein achzehnjähriges hübsche Fräulein stellte man uns als neue Geigenlehrerin vor. Geige zu spielen war vorher für mich undenkbar, ein Graus! Doch bei einem so scharmanten Angebot musste man unbedingt die Gelegenheit ergreifen. Auf ihrem Instrument hatte sie einen ausgesprochen strahlenden Ton und ein herrliches Vibrator!
Ich erwarb von einem Bekannten meines Vaters Herrn Kortschack eine passable Geige. Von meiner Geigenlehrerin wurde mir das jedenfalls bestätigt. Die ersten Unterrichtsstunden waren reine Knochenarbeit, bis mal ein halbwegs brauchbarer Ton dem Instrument zu entlocken war. Linke und rechte Hand müssen ideal zusammenspielen,  bis erst nur ein starker sägender Ton zu Stande kam. Es brauchte eine halbwegs Bogenbeherrschung, um die Tonqualität zu verbessern.
Für Adolf Kissilak baute man die Geige von links auf rechts um, weil ihm durch die Explosion einer Gewehrgranate, linker Daumen und Zeigefinger abgetrennt wurden. Für die Bogenführung genügten Mittel, Ring und kleiner Finger.
Als es nach einem halben Jahr gar nicht so schlecht für uns Geigenden aussah, wagte sich die junge Geigenlehrerin über die Kindersymphonie von Josef Heiden.
Ab Weihnachten wurde nur für die Kindersymphonie gestrebert.
Mein Freund Walter Koch übernahm den Klavierpart.
Adolf und ich zweite Geige.
Edi und die Lehrerin erste Geige.
Philosophiestudent Simon gab mit dem Violoncello dem Ganzen ein schönes, wohlklingendes Fundament.
Statt dem Signalhorn spielte Emmerich mit einem Piston das „Tah, tata“. Ein dreigestrichenes, hohes c. 
Ich weiß nicht mehr genau, ob nicht Engelbert mit der Klarinette auch einen Part zugewiesen bekam. Ob eine Klarinettenstimme in der Kindersymphonie überhaupt vorgesehen war; 

Für die erste Orchesterprobe auf der kleinen Bühne im Turnsaal,  nahmen wir uns recht zusammen. Links von mir nahm Adolf auf dem Stuhl platz. Erster öffentlicher Einsatz mit seiner umgebauten Geige.
Mir wurde es ein wenig murmelig: „Ob das gut gehen wird?“

Eins, zwei, drei, und! 
Adolf und ich führten wie vorher oftmals geübt, den Geigenbogen über die Seiten unserer Instrumente. Was war das? Ich spürte plötzlich ein feines Stochern in Haaren und Gesicht.
Adolfs konträre Bogenführung kollidierte mit meinem korrekt geführten Bogen und Gesicht. Unser beider Geigenbögen verhedderten sich so ineinander, dass es eine Weile dauerte, bis alles wieder entwirrt war. Um das in Zukunft zu vermeiden, mussten wir die Plätze tauschen. In einem Ensemble  zu spielen, löste in mir ein  unbeschreibliches Gefühlshoch aus.
Die Aufführung der Kindersymphonie von Josef Heiden wurde am Sonntagnachmittag ein großer Erfolg.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (18.04.19)
Sehr schön geschrieben, diese zum Teil traurigen, zum Teil lustigen Erinnerungen.
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