Stephan mit ph.

Tagebuch zum Thema Gefühle

von  IngeWrobel

Ich glaube, ich nannte ihn Stephan – mit ph, weil das damals die üblichere Schreibweise war. Außerdem hieß er nach meiner Erinnerung mit Nachnamen Stephan – mit ph. 

Eine komische Angewohnheit von mir, den Leuten andere Namen zu geben. Aber das liegt nur daran, dass manche Namen einfach nicht zu ihren Trägern passen.

Wenn ich einen Menschen anschaue und seinen Namen erfahre, merke ich sofort, ob der Name passt. Falls nicht, gebe ich ihm halt einen anderen. Manchmal frage ich vorher, ob ich das darf – ob derjenige was dagegen hat. Aber manchmal mache ich das auch einfach, ohne zu fragen. Wenn sich jemand beschwert, kann ich ja mit ihm zusammen einen passenden Namen aussuchen. Aber es hat sich noch nie jemand beschwert.

Mir fällt der Michael ein, der eigentlich Dieter hieß. Wie kann ein blonder Mann nur Dieter heißen? Also das ging gar nicht! Deshalb hab ich ihn Michael genannt. Er hatte nichts dagegen. Ob er einverstanden war, weil er diesen Vornamen auch passender fand oder ob er sich von mir überrumpeln ließ, weil er mich mochte, weiß ich nicht. Er hat nicht gemeckert ... und so war er eben bei mir Michael.

Der Stephan wird nicht allzu erstaunt gewesen sein, dass ich ihn so nannte. Der Name war ihm ja vertraut, und er war sicher in der Schule öfter mit seinem Nachnamen angesprochen worden. Zum Beispiel im Gymnasium: „Stephan, setzen, gut!“
Dass er gut war, nehme ich an, denn sonst hätte er ja nicht das Abitur geschafft und studieren können.

Als ich ihn kennen lernte, hatte er gerade mit dem Studium begonnen. Er wohnte bei uns im Haus in einem möblierten Zimmer. Einmal kamen wir uns in seinem Zimmer etwas näher. Wir redeten dummes Zeug und benahmen uns wie die Kinder – liefen um den Tisch herum, Auge in Auge, als wollten wir einander fangen. Oder so, als wolle er mich fangen, und ich wich ständig aus. Wir lachten, während wir Unsinn plapperten, den ich längst vergessen habe.
Es war klar, dass wir uns küssen würden, wenn er mich erwischte. Aber er erwischte mich nicht. Es wäre ein Leichtes gewesen. Wahrscheinlich war uns beiden während unseres Spiels bewusst geworden, dass sich alles ändern würde, wenn es zu einem Kuss käme.

Es gab eine prickelnde Spannung zwischen uns, wenn wir uns im Hausflur oder auf der Straße begegneten; dazu kamen diese Blicke, die so viel sagten, und aus denen wir noch mehr herauslasen ... alles das wäre plötzlich vorbei oder zumindest anders. Unser Kennen wäre auf eine andere Ebene verschoben, wenn es zu einem Kuss gekommen wäre. 

Wer oder was dann unser Spiel unterbrach, weiß ich nicht mehr. Aber ich glaube, dass auch er froh darüber war, dass wir weiter träumen konnten. Dass wir weiterhin als Verschworene miteinander umgingen, die ein sehnsüchtiger Traum, ein geheimes Verlangen verband, von dem sonst niemand etwas ahnte.

Es lag stets ein verstehendes Lächeln zwischen uns, wenn wir uns sahen. Unser kleines süßes Geheimnis, das uns niemand nehmen konnte – und das ich mir bis heute bewahrt habe.

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Kommentare zu diesem Text


 DanceWith1Life (21.04.20)
so simpel dieser Text daher kommt, es liegt auch eine Weisheit darin, sich seine Träume zu bewahren und nicht alles als, been there, done that, abhaken zu müssen.

 IngeWrobel meinte dazu am 21.04.20:
Sehr gut erkannt!
Dieses spielerische Prüfen der Anziehung ist ein fester Bestandteil des Kennenlernens ... wenn man sich Zeit lässt. Und die prickelnde Spannung zu halten ist Kunst und Genuss zugleich.
Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber es kommt mir so vor, als gäbe es das in unserer schnelllebigen Zeit nicht mehr ... wäre echt schade.
Danke für Dein Einfühlen
und liebe Grüße
Inge : )

 ViktorVanHynthersin (21.04.20)
Ein schöner Bogen, den Du hier schlägst. Gerne gelesen!
Herzlichst
Viktor
Sätzer (77) antwortete darauf am 21.04.20:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 IngeWrobel schrieb daraufhin am 21.04.20:
@ Viktor: Das freut mich!
Liebe Grüße
Inge


@ Sätzer: Bevor mein Halbbruder geboren wurde, durfte ich den Namen aussuchen. Da ich nicht wusste, ob er ein dunkelhaariger Knabe (nach seinem Vater) oder ein blonder (nach der Mutter) würde, suchte ich den brünetten Namen Andreas und den blonden Namen Michael aus. Nach der Geburt bekam er dann die Namen Andreas Michael in dieser Reihenfolge.
Ich hatte offensichtlich schon als Kind feste Zuordnungen von Namen zum Aussehen ... und umgekehrt.
Danke für die Empfehlung
und liebe Grüße
Inge
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