Gelb

Skizze

von  blauefrau

Gelb wie die Post, gelb wie die Sonnenblume, gelb vor Neid - die Psychologin, Urte, hat heute die gelbe Karte gezogen. Sie, Toni, war ja eher für Blau, Blau wie der Ozean, die kühle Luft, die kalten Farben.
Besonders der Neid steht bei ihr für Gelb, oder Gelb für Neid. Morgens schon neidet sie der Freundin die Gedanken, die diese aus ihren Träumen in ihr Tagebuch übernimmt- sie selbst lechzt nach Kaffee und muss unbedingt etwas essen, irgendetwas, das sich gerade in ihrem schlecht gefüllten Kühlschrank findet- den Mann, der ihr den Kühlschrank strukturiert und  den Haushalt führt, hat sie bisher nicht gefunden- dabei gehen ihre Jahresringe an die 60 hoch. Sie sagt das auch so in ihrem Freundinnenkreis - und erst jetzt fällt ihr auf, dass sie nicht mal besonders emanzipiert ist- nicht mal in der Lage sein, den eigenen Haushalt zufriedenstellend zu führen- nicht einmal Sorge für einen vernünftigen Bestand im Kühlschrank konnte sie tragen. Jedenfalls schreibt sie auch heute morgen nichts in ihr Notizbuch. Sie hat ihren Traum über der Suche nach Essbarem verlegt. Dieser Traum lässt sie jedoch nicht mehr in Ruhe: sie sitzt in einem Raum und soll eine Leistung erbringen. Sie kann nicht aufstehen und kann den Stift nicht aus der Hand legen: jemand steht vor der Tür und lässt sie nicht heraus. Wer ist es, und warum kann sie nicht schreiben?
Wenn sie weiß, wer vor der Tür steht, weiß sie dann, wer sie selbst ist? Wer will sie zwingen, das linierte Blatt zu beschriften? Steht ihr Double oder ihr Alter Ego vor der Tür und hält sie am Tisch fest?
Ich heiße Toni und bin 58 Jahre alt. Ich heiße Toni, bin 58 Jahre alt und halte mich selbst gefangen.
Ich bin Toni, 58 Jahre alt, halte mich gefangen und füge Buchstaben aneinander.
Ich heiße Antonia, bin 58 Jahre alt, habe mir selbst eine Falle gestellt, um mir nicht davon zu laufen und halte mich in einem kleinen Raum gefangen. Ich schreibe an einem Traum, der sich in meinem Kopf festgesetzt hat und fast täglich wiederholt:
Ich heiße Antonia, bin 58 Jahre alt, habe mir selbst eine Falle gestellt, um mir nicht davon zu laufen und halte mich in einem kleinen Raum gefangen. Von dem kleinen Raum gelange ich in einen kleineren Raum, in dem ich auch an einem Tisch sitze und meine rechte Hand bewege. Dieser Raum führt in einen noch kleineren Raum, in dem ich an einem Tisch sitze und meine rechte Hand bewege. Mit einem glänzenden schwarzen Stift schreibe ich an einem Traum, der sich in meinem Kopf festgesetzt hat, mich an meiner Arbeit hindert und täglich wiederholt.

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