Norma

Erzählung zum Thema Erkenntnis

von  Quoth

„Sag ich’s ihr oder sag ich’s ihr nicht? Er kam aus dem Rheinland, spielte sehr gut Klavier, hatte eine Geliebte, die er unglücklich gemacht hat und die dann aus seinem Leben verschwand, und er spielte 'Für Elise', um sich an sie zu erinnern … Aber wie viele Rheinländer, die gut Klavier spielen und eine Frau unglücklich gemacht haben, mag es geben? Und 'Für Elise` ist nun wahrlich eins der meistgespielten Verliebtheitsstücke der Welt! Nein, ich darf es ihr nicht sagen, denn ich müsste ihr auch sagen, dass er tot vom Stuhl gefallen ist, und eine wenn auch winzige Hoffnung, dass er zurückkommt, hat sie doch immer noch! Welches Recht habe ich, ihr diese Hoffnung auf Grund einer bloßen Vermutung zu nehmen?“ Das waren meine Gedanken, als ich, neben Karla sitzend, am Schlauchtrockenturm von Rabenschlade vorbei in die Oper fuhr. Aber es kann kein Zufall sein, dass es die Oper „Norma“ von Bellini war, denn sie handelt von einer Druidenpriesterin, die heimlich und verbotener Weise Kinder von einem Römer hat, und wenn sie mit dieser unglaublichen Stimme ihre „Keusche Göttin“ beschwört, tut sie das mit schlechtem Gewissen, so wie auch Karla Gewissensbisse hatte, als sie plötzlich erfuhr, dass ihr Liebster Aaron verheiratet war … Ich saß neben ihr auf der Heimfahrt und heulte wie ein Schlosshund, sie dachte wohl, es sei immer noch wegen Manfred, sie malte mir am Beispiel ihres Bruders aus, wie schrecklich es sei, als 175er zu leben, nein, Manfred ist längst vergessen, ich mag gar nicht mehr an ihn denken, schäme mich beinahe, in ihn verliebt gewesen zu sein, Gudrun ist meine Begleiterin geworden, ihr Klavierspiel trägt mich über alle Abgründe hinweg, wir spielen jetzt Händel zusammen, der ist zwar leichter als Telemann, aber so viel tiefer! Wenn sie nur mehr mit mir spräche, ich bin ihr wohl einfach zu jung, sie ist ja drei Klassen über mir und würde sich schämen, auch nur drei Schritte auf dem Schulhof neben mir zu gehen … Ja, deshalb weinte ich auch, aber am meisten wegen Karla, wegen des Unglücks, durch das sie hindurchmusste, hatte sie das Kind wohl bekommen? Hatte sie es zur Adoption frei gegeben? War es ‚still-born‘, wie der Engländer sagt? Und ich begriff, dass Frausein heißt, zum Leiden geboren zu sein, und dass man dafür die Normas, die Elisen, die Gudruns und die Karlas über alles lieben, umarmen, verehren und küssen muss! Und neulich komme ich zur Flötenstunde und höre, wie Gudrun die Arie auf dem Blüthner spielt, ich hatte sie darum gebeten, weil Karla die Noten einer Fassung von Chopin hatte, und Gudrun hatte gesagt, romantische Musik liege ihr nicht, und als ich hereinkam, verspielte sie sich, klatschte errötend in die Hände und rief: „Es hat einfach k-k-k-keinen Zweck!“

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