Der Richter aus der Hansestadt

Erzählung

von  Quoth

Eine Gerichtsverhandlung fand statt im alten Himmelsteiner Amtsgericht, für die extra ein Richter aus der Hansestadt angefordert wurde – wegen der großen grundsätzlichen Bedeutung des Falles. Landrichter Kotthaus war nikotinsüchtig und wälzte während der Verhandlung einen Priem von einer Backe in die andere. Er eröffnete die Verhandlung mit dem Satz: "Sie brauchen hier außer unter Eid nicht die Wahrheit zu sagen, aber bedenken Sie: Ich brauche Ihnen auch nicht zu glauben!" Es ging um die Frage, ob der letzte Wille von Karla Janssen zugunsten von Lea Wolf galt oder nicht. Propst Westfal focht dieses Testament an mit der Begründung, die Erblasserin sei nicht mehr testierfähig gewesen, habe schon schwere Symptome von Demenz gezeigt und sei ihm gegenüber auf unsinnige Weise aggressiv aufgetreten, habe sogar einmal das Metronom nach ihm geworfen. Lea Wolf war zu dem Gerichtstermin geladen, war jedoch nicht rechtzeitig aus Israel eingetroffen, aber Mrs. und Mr. Green vertraten ihre Interessen und verhinderten so, dass ein Versäumnisurteil gefällt wurde. Sie riefen als Zeugen Landrat Ludolf von Osten auf, der aussagte, er habe noch kurz vor Karla Janssens Tod bei ihr eine erste Klavierstunde genommen in der Hoffnung, dass noch viele folgen würden. Da platzte plötzlich Lea Wolf in die Verhandlung herein, legte dem Gericht einen fehlerfrei handgeschriebenen Brief vor, in dem Karla ihr mitteilte, dass sie das Haus ihr als ihrer einzigen Erbin vermacht habe. Westfal wandte ein, das könne eine Fälschung sein, es müsse ein graphologisches Gutachten angefordert werden, man wisse ja, dass den Juden jedes Mittel recht sei, das wisse man unter anderem, seit sie mit List und Tücke Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und gefangen genommen hätten, jetzt stehe er in Jerusalem vor Gericht, ein unmögliches und keineswegs rechtsstaatliches Verfahren, wenn das so weiter gehe, seien die Besitzer von ehemals jüdischen Häusern nicht nur in Himmelstein, sondern in ganz Deutschland ihres Eigentums nicht mehr sicher. Außerdem habe er Lea damals vor ihrem sicheren Tod gerettet, sie an Kindesstatt bei sich aufgenommen und unter dem Namen Gudrun aufgezogen; was sie hier zeige, sei verwerflichster grober Undank. Daraufhin erhob sich Lea und deutete mit vorsichtigen, aber eindeutigen Worten an, dass sie als Kind von ihrem Ziehvater sexuell missbraucht worden sei und sich dafür zu Dank nicht verpflichtet fühle. „Sie lügt und hat schon immer gelogen, ich habe sie dafür nur gezüchtigt!“, tobte der Propst. Der Richter spuckte in das neben ihm stehende Spucknapf und wollte die Verhandlung wegen notwendiger Gutachten und Zeugenbefragungen vertagen – da stand die Frau des Pastors auf und sagte: „Lea sagt die Wahrheit! Ihr Ziehvater hat mit ihr Sachen gemacht, die mit einem Kind zu machen einem Mann nicht ansteht, und schon gar nicht einem Kirchenbeamten. Ich habe das immer gedeckt, weil ich mich zu sehr schämte und auch umso mitschuldiger fühlte, je länger ich dazu schwieg. Aber es muss mal ein Ende sein mit der Lügerei!“ Der Richter entschied: „Karla Janssens Testament ist gültig. Die anderen Besitzer ehemals jüdischer Häuser mögen ruhig sein. Ihre Strafe wird darin bestehen, dass sie sich als Profiteure verbrecherischer Handlungen ihres Besitzes nie wieder uneingeschränkt werden freuen können.“


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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (05.09.22, 12:05)
Ich denke, dass viele dieser Profiteure überhaupt kein Gewissen haben und es besteht hier seitens der Justiz kein Interesse hier dagegen etwas zu unternehmen. 

Lese mit Spannung Deine Erzählungen und freue mich auf die Nächste, lieber Quoth.

Herzlich grüßt
Alma Marie

 Quoth meinte dazu am 05.09.22 um 22:04:
Ja, Du hast Recht, das Unrechtsbewusstein ist minimal, es ist Götz Aly und einigen anderen zu verdanken, dass auf die Nutzer des Holocaust erstmalig hingewiesen wurde.
Danke für Kommentar und Empfehlung! Quoth
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