Der Zeitungsausschnitt

Erzählung zum Thema Vater/ Väter

von  Quoth

Herbert hatte, auf seine Unterrichtsstunde wartend, wieder das Buch mit den Bildern Schieles herausgezogen. Er genoss den Anblick des schwarzhaarigen Mädchens mit hochgeschlagenem Rock, während Gudruns Klavierspiel in sein Ohr eindrang, eine Zweisinnigkeit, die ihn zugleich froh und auf sich selbst zornig machte. War seine Beziehung zu Gudrun nicht rein musikalischer Art, was hatte physische Weiblichkeit dazwischen verloren? Er wandte die Augen von dem Bild ab – und sein Blick fiel auf einen Ausschnitt aus dem Himmelsteiner Volksfreund, den Karla Janssen auf dem verschlissenen Sofakissen liegen gelassen hatte. Für ihn? Ja, für ihn, denn darin war von seinem Vater die Rede – er wurde interviewt:

Necenna = Himmelstein?
Seit einigen Tagen erschüttert ein Streit um die Anfänge unserer Stadt die Gemüter. Er wurde ausgelöst durch einen Artikel von Dr. Emil Eisenpflicht, Kustos der slawischen Abteilung im Landesmuseum, in den Blättern für sächsische Geschichte. Chefredakteur Wittkowski sprach mit dem Autor.
Wittkowski: War Ihnen klar, welch einen Sturm im Wasserglas Ihr Artikel „Himmelstein ist das Necenna der Wenden“ auslösen würde?
EE: Nein, das hat mich überrascht. Immerhin liegen diese Vorgänge 900 Jahre zurück.
W: Aber für viele Bürger macht es eben einen großen Unterschied, ob sie in einem Ort slawischen oder sächsischen Ursprungs leben.
EE: Das verstehe ich nicht. Slawen und Sachsen sind einander doch absolut gleichwertig.
W: Da gehen die Meinungen eben auseinander. Aber gehen wir auf die Details ein. Inwiefern soll Necenna den Namen Himmelstein vorwegnehmen?
EE: Es ist eine Latinisierung, in der sich zwei wendische Wörter verstecken: nebe für Himmel und kamen für Stein. Es ist auch nach den Grabungsfunden anzunehmen, dass sich, bevor die Sachsen ihre Festung auf dem Himmelstein errichteten, zuvor schon eine wendische Burg darauf befand.
W: Und verstehen Sie, dass Ihre Forschungen Pastor Westfal, der einen wütenden Leserbrief geschrieben hat, wie eine Einladung an Russland erscheinen, auch Himmelstein in seinen Einflussbereich einzubeziehen?
EE: Russland habe ich durch meine langjährige Gefangenschaft gut kennen zu lernen Gelegenheit gehabt. Es ist saturiert und hat Probleme genug mit seinen Satelliten und der Ostzone, die sich seit einigen Jahren DDR nennt. Für eine Grenzverschiebung bedürfte es eines Krieges, und von dem sind wir Dank Eisenhower und Chruschtschow weit entfernt. Außerdem ist völlig klar, Himmelstein ist eine sächsische Gründung, aber eben auf slawischen Ruinen.
W: Pastor Westfal hat gefordert, die slawische Abteilung im Museum zu schließen.
EE: Pastor Westfal soll mal ganz schön still sein. Er hat in SA Uniform von der Kanzel herunter gepredigt, Jesus sei ein Arier gewesen. Für mich ist es unfassbar, dass die Kirche solche Scharlatane weiter beschäftigt, statt ihnen die Ordination zu entziehen (von Karla Janssen dick mit Bleistift unterstrichen).

Herbert ließ das Blatt sinken. Warum hatte Emil sen. nie von dieser Auseinandersetzung gesprochen? Auch in der Schule war bisher nichts davon angekommen. Aber vielleicht war dies nun endlich ein Thema, auf das Gudrun einmal eingehen musste. Karla Janssen würde gleich mit ihr durch die Bibliothek hinausgehen, er wollte sie einfach fragen: Was sagst du zum Streit unserer Väter? Aber sie wählten den anderen Weg zum Flur, und als Karla hereinkam, sagte sie beiläufig: „Ich fürchte, du musst zu Manfred als Begleiter zurückkehren. Gudrun hat mir mitgeteilt, ihr Vater wolle nicht, dass ihr zusammenspielt. Ich sehe, du hast das Interview gelesen. Was dein Vater sagt, kann ich voll und ganz bezeugen. Gudruns Vater hat sich mit zelotischem Eifer für die Deutschen Christen eingesetzt. Auch ich finde, dass er in seinem Amt nichts mehr zu suchen hat. Komm, wir nehmen uns dies hier vor: Ein Divertimento von Bononcini, dem Rivalen Händels in London, sehr melodiös und gefällig!“

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Kommentare zu diesem Text


 Willibald (07.07.21)
Makellose,scheinharmlose Technik medias in res, makellos geschickt in der Platzierung der Widerhaken und makellos pathos- und schnörkelfrei, wenn der Leser sich einlässt, einlässt auf die private und politische plotführung.

Kommentar geändert am 07.07.2021 um 21:24 Uhr

 Quoth meinte dazu am 08.07.21:
Hallo Willibald, drei makellos sind eindeutig zu viel. Bitte nimm eins zurück! Trotzdem vielen Dank! Quoth

 Willibald antwortete darauf am 08.07.21:
Ächz.

 Dieter_Rotmund (13.07.21)
Ich habe lange nicht mehr so eine journalistisch schlecht gemachte Intervieweinführung gelesen. Das Interview selbst hingegen hat Pepp.

 Quoth schrieb daraufhin am 13.07.21:
Naja, der Himmelsteiner "Volksfreund" ist kein Weltblatt!

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 14.07.21:
Nun ja, der Lokaljournalismus ist normalerweise handwerklich nicht per se schlechter als FAZ und SZ. Was schlechter ist, ist meist irgendwelcher Meinungsjournalismus im Internet, auf irgendwelchen Nachrichtenseiten, die keine sind.

Antwort geändert am 14.07.2021 um 01:05 Uhr
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